So war das mit der deutschen Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts: Viele adlige Sprösslinge erhielten Unterricht in den schönen Künsten, damit der Landesherr seinen Kunstsinn zur Schau stellen konnte. Deutschland wurde so die Landschaft mit der bis heute weltweit größten Dichte an Theatern und Orchestern.
Eine Frucht dieses Kunstsinns ist derzeit im Meininger Staatstheater zu bestaunen: Die 1854 uraufgeführte Oper "Santa Chiara" des komponierenden Herzogs Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, älterer Bruder von Albert, Ehemann der englischen Königin Victoria. Während der adlige Schöpfergeist im Herzogtum Sachsen-Meiningen in der Theaterleidenschaft Georgs II. erblühte, war es im benachbarten Herzogtum die Musikbegeisterung von Ernst II.

Drei Werke brachte Ernst mit regionalem Erfolg zur Aufführung. Mit seiner vierten Oper "Santa Chiara" allerdings legte er sich mächtig ins Zeug und gewann die populäre Schauspielerin und Autorin Charlotte Birch-Pfeiffer als Librettistin (laut Programmheft "eine Art Rosemarie Pilcher des 19. Jahrhunderts"). Giacomo Meyerbeer sollte für den "admirablen Amateur" den Weg in die Pariser Oper und damit zum Ruhm ebnen. Was auch gelang.
Das Stück wurde in vielen europäischen Metropolen gespielt, bis es in Vergessenheit geriet
So erlebte die Oper bis 1927 nicht nur über 50 Aufführungen am Gothaer Hoftheater, sondern zog – neben Paris – auch in die Opernhäuser europäischer Metropolen ein. Bis sie in Vergessenheit geriet. Was den Rezensenten damals immer wieder aufstieß, war nicht die Musik, sondern waren die "wunderlichen Unglaublichkeiten" des Librettos, das das tragische Schicksal einer realen Prinzessin im 18. Jahrhundert zu einer romantisch-mythischen Geschichte verarbeitet.
Die 14-jährige Prinzessin Charlotte aus dem Hause Braunschweig-Wolfenbüttel wird mit einem brutalen Zarewitsch zwangsverheiratet und stirbt nach der Geburt ihres ersten Kindes – des späteren Zaren Peter II. Die Librettistin macht daraus einen Mord durch den Gatten und lässt die vom Tode Auferstandene zu einer verehrten Wunderheilerin mutieren. Bis ihr inzwischen ganz und gar wahnsinniger Gatte erscheint…

Nun also wiederbelebt Meiningen das Stück nach hundertjährigem Dornröschenschlaf in der Regie von Hendrik Müller und der musikalischen Leitung von Philippe Bach. Und – oh Wunder! – dem Inszenierungsteam mit Marc Weeger (Bühne) und Katharina Heistinger (Kostüme) gelingt es, das schier Unvereinbare zu einem nachvollziehbaren Ganzen zusammenzufügen: Das haarsträubende Libretto mit der Musik, einem durchaus gekonnten Best-of-Potpourri aus Belcanto, deutschem Liedgut, Lortzings volkstümlichem Chorgesang, Wagnerschem Geist und eigenen Einfällen.
Vor der Neuaufführung mussten erst einige Schichten des Originalwerks weggeschaufelt werden
Ensemble wie Chöre zweifeln dabei trotz der verqueren Worte, die ihnen in den Mund gelegt werden, nicht an der Musik. Und gestalten souverän mit der Meininger Hofkapelle einen melodischen Fluss selbst dort, wo keine Handlung fließt: Lena Kutzner (alternierend mit Deniz Yetim) als Prinzessin Charlotte, Johannes Mooser als bösartiger Zarewitsch sowie Marianne Schechtel, Patrick Vogel, Tomasz Wija, Rafael Helbig-Kostka und Mikko Järviluoto.

Warum viele Häuser derzeit so hartnäckig nach vergessenem Alten graben, hat wohl damit zu tun, dass ihnen der Umgang mit dem bekannten Alten langsam ausgereizt erscheint. Bei "Santa Chiara" müssen erst einmal einige Schichten weggeschaufelt werden, vor allem in Rezitativen und Gesängen, die so schwülstig daherkommen, dass einen schaudern könnte. Tatsächlich finden die Meininger ein Schätzchen in der Musik und in den Subtexten.
Die sich ständig langsam drehende Bühne verstärkt den Eindruck der Unentrinnbarkeit aus dem Milieu, zuerst aus den burgunderroten Zimmerfluchten des Kreml, dann aus einer knallroten Zirkusarena. Dort dirigiert die wiedererweckte Charlotte ihre in Weiß gewandeten, stets lächelnden Jünger wie eine Schäferin ihre Schäfchen. Allein dieses Bild führt die Idee der Librettistin von der Befreiung der geschundenen Seele ad absurdum. Die Theatermacher gehen mit großem Respekt vor dem musikalischen Können des Herzogs ans Werk und zerreißen die Geschichte nicht in der Luft. Dennoch drängt sich ein Titel für das Stück förmlich auf: "Charlotte – eine Frau will nach oben".
Nächste Vorstellungen: 13. und 20. März, 1. und 30. April. Kartentelefon: (03693) 451222. www.staatstheater-meiningen.de. Die Oper ist am 2. April auf Deutschlandfunk Kultur zu hören.