W irres, vom Wind zerzaustes Haar, ein lachender Mund, bronzefarbene Haut und ein spitzenbesetzter Bikini - dieses Mädchen ist wie ein Wahrzeichen von St. Tropez. Sie heißt übrigens Marlene Neckermann, ist die Nichte des deutschen Versandhaus-Königs und reiste mit Vater, Mutter und Bruder nach St. Tropez. Vier Wochen lang liefen ihr die Männer nach. Sie schmachteten umsonst. Zufrieden reiste Marlene ab - eine verlockende, unerreichbare Sirene."
Der Texter von der Illustrierten Quick zog im Sommer 1960 alle Register, um den Lesern in Deutschland zu schildern, was an der französischen Côte d'Azur abging: "Am Strand der Versuchung" prangte in großen Lettern auf dem Titelbild - das in der Heimat der "verlockenden Sirene" für einen echten Skandal sorgte. Die Heimat der jungen Frau war Würzburg.
Dort begann nach der Rückkehr aus St. Tropez das, was Marlene Neckermann heute "Spießrutenlauf" nennt. Die Eltern hatten nichts dabei gefunden, dass die Tochter sich ablichten ließ. Oma fand die Fotos gut. Der Rest der Familie aber "ist im Dreieck gesprungen". Freunde und Bekannte reagierten entsetzt: Fotos im Bikini! "Da hättest Du dich ja gleich nackt fotografieren lassen können!" Die Familie rückte nächtens aus, um Quick-Werbeplakate von den Litfaßsäulen zu kratzen: Auf ihnen posierte die damals 16-Jährige. Im Bikini natürlich.
Die Quick-Titelseite zeigte weniger nackte Haut als das Plakat. Der Fotograf hatte das Foto entschärft, in dem er ein rotes Frotteetuch um die Schultern seines jungen Models drapierte: "Warum auch immer, aber auf der Titelseite durften die keine Mädchen im Bikini abbilden", erinnert sich Marlene Neckermann und wundert sich mehr als 40 Jahre danach über die Prüderie jener Zeit: "Ich hätte mich damals im Bikini nicht ins Würzburger Dallenbergbad getraut . . .". Badeanzug mit Bein-Ansatz war angesagt.
In St. Tropez war alles ganz anders. "Da liefen alle im Bikini rum." Heute besuchen jährlich fünf Millionen Urlauber den 6000-Seelen-Ort. Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre war's in dem Städtchen an der Mittelmeerküste noch ruhig: "Das war ein Künstlerdorf. Ein Geheimtipp." Die junge Würzburgerin war mit ihren Eltern dort mehrmals im Urlaub und genoss die lockere Atmosphäre. Zur Schickimicki-Promi-Flaniermeile wurde der Strand erst später mit Gunther Sachs, Brigitte Bardot und den Kessler-Zwillingen.
Im Fränkischen ging's weniger locker zu als im Südfranzösischen. Mutter Neckermann schickte die Tochter vorsichtshalber nach Bad Harzburg. Dort machte die junge Marlene eine Lehre als Schaufenster-Gestalterin, "bis sich zu Hause alles wieder beruhigt hatte". Zudem wartete man nach dem Erscheinen der Bikini-Fotos auf einen erbosten Anruf des strengen Onkels, des "Versandhaus-Königs", wie die Quick ihn genannt hatte. Der Anruf kam nie. Marlene Neckermann erfuhr nach und nach, dass Josef Neckermann "von wichtigen Geschäftsfreunden" auf die Fotos seiner Nichte angesprochen worden war. Und alle seien begeistert gewesen - da hielt sich der Versandhaus-Onkel lieber zurück.
Heute kann Marlene Neckermann über die damaligen Vorgänge herzlich lachen. Geschämt hat sie sich für die Bikini-Fotos nie. Nur der Gedanke, dass sie als Pin-up-Girl in den Spinden der Soldaten hing, habe sie gestört. Geschämt hat sie sich allerdings für den Text. "Nichts davon ist wahr", erzählt sie. Von wegen schmachtende Männer: "Ich war ganz brav." Sie habe einfach Urlaub mit der Familie gemacht - "es waren auch nur zwei Wochen, nicht vier, wie es in der Quick stand . . . "
Benno Wundshammer, der die 16-Jährige Würzburgerin am Strand von St. Tropez entdeckte, hatte auch eher einen Namen als Fotograf denn als Texter. "Der hat Stars wie Marilyn Monroe und Romy Schneider fotografiert", erinnert sich Marlene Neckermann.
Gebracht hat das Titelfoto auf der auflagenstarken Illustrierten der schlanken, 1,79 Meter großen Frau nichts. Keine spontanen Angebote, sie als Model einzustellen. Allerdings wurde der Filmemacher Bernhard Wicki auf die schöne Fränkin aufmerksam. Er wollte sie für "Das Wunder des Malachias" vor die Kamera holen, besetzte die Rolle 1961 dann aber doch anders: "Ich war ihm wohl zu jung und zu schüchtern", vermutet Marlene Neckermann.
Am liebsten wäre sie damals, wie so viele Mädchen, Mannequin geworden. In München nahm sie schon mal an einem zweiwöchigen Kurs teil. Marlene Neckermann kramt Schwarz-Weiß-Fotos aus einer Tüte, die sie mit angesteckter Hochfrisur und im großgepunkteten Kleid zeigen. Um die extrem schmale Taille windet sich ein Gürtel: "Ich habe damals extra für die Mannequin-Schule drei oder vier Pfund abgenommen", erzählt die Frau mit der sportlichen Figur. Aus dem Beruf Mannequin wurde aber nichts: "Meine Mutter war dagegen." Mit all den Reisen zu Modeschauen, all den Übernachtungen in Hotels hatte der Beruf etwas leicht Anrüchiges. "Und als Fotomodell war ich nicht hübsch genug."
Das Leben der Marlene Neckermann nahm eine ganz andere Richtung. Sie studierte Kunst und Grafik in Wiesbaden und München. München wurde dann auch ihre Heimat. Sie malte in den 70er-Jahren erotische Bilder für Männermagazine wie Penthouse, Playboy und Lui - hatte aber auch Ausstellungen im renommierten Haus der Kunst.
Marlene Neckermann lebt heute in Markt Einersheim bei Iphofen in der aufwändig zur Wohnung umgestalteten ehemaligen Gastwirtschaft "Zur Goldenen Sonne". Sie führt zusammen mit ihrem Mann Dieter Heisig ein Unternehmen in der Biodiesel-Branche. Der Sohn studiert in Heidelberg. Fit hält sich Marlene Neckermann mit Reiten. Drei Pferde hat sie, nimmt an Dressur-Wettbewerben teil. Die Liebe zu den Pferden "liegt bei uns in der Familie", erzählt sie. Ihr erstes Pferd hatte ihr Onkel Josef Neckermann geschenkt. Der hatte einen Namen nicht nur als Versandhaus-Gründer sondern auch als Olympiasieger im Dressurreiten.


Den einst skandalösen Bikini, hat Marlene Neckermann übrigens noch. Und auch die damals schlimmen Fotos.