Die Anekdote wird gerne erzählt. Johann Wolfgang von Goethe soll ein wenig enttäuscht gewesen sein, als er auf seiner berühmten italienischen Reise ab November 1786 in Rom weilte. Der Dichterfürst hatte die Veduten, also die Stadtansichten von Giovanni Battista Piranesi im Kopf. Doch was er in der Ewigen Stadt sah, war nicht das, was er zu Hause auf Papier bewundert hatte. Die Wirklichkeit Roms war eben nicht so theatralisch überhöht wie auf den Radierungen des 1720 in Mogliano nahe Venedig geborenen Künstlers Piranesi.
Der ausgebildete Architekt Piranesi, der ab 1740 in Rom die Kunst des Kupferstechens erlernt hatte, schuf eine fantasievoll neu belebte Szenerie der antiken Ruinen, eine Vision. Damian Dombrowski, Direktor der Neueren Abteilung des Martin von Wagner Museums der Universität Würzburg, bezeichnet das als "übersteigerte Realität". Goethe hingegen erwähnte "so manches Effektreiche", das Piranesi ihm „vorgefabelt“ habe. Konkret bezog er sich dabei auf "die Trümmer der Antoninischen und Caracallischen Bäder".

Das Museum zeigt eine besondere Ausstellung. Nicht nur Grafiken von Piranesi werden präsentiert. Auch die Werke zweier Künstler sind zu sehen, die rund 250 Jahre nach Piranesi dem "Reiz der Ruine" erlegen sind, so der Titel. So entsteht durch die Werke von Robert Reiter (geboren 1932) und Kevin Fletcher (geboren 1956) auch ein Reiz der Gegenüberstellung. Kurator Markus Maier verspricht eine spannende Reise durch ruinöse Räume und Zeiten. Und die Besucher werden nicht enttäuscht.
Es ist eine große Schau in der kleinen Galerie im Südflügel der Residenz. Stellwände ragen in den schmalen langen Raum. Sie halten im positiven Sinne auf, lenken die Aufmerksamkeit, schaffen Sichtachsen. Säulenfragmente lagern am Boden. Der Weg führt vorbei an rund 60 Zeichnungen, Drucken und Fotografien aus viereinhalb Jahrhunderten (auch von anderen Künstlern in einer Ausstellung in der Ausstellung). Und am Ende stehen die Besucher vor der mehrere Meter hohen, auf Stoff reproduzierten Ansicht Piranesis eines antiken Rundbaus, des "Tempio della Tosse" bei Tivoli an der Via Tiburtina.
"Es entwickelt sich ein geradezu magischer Sog der Übereinstimmungen."
Kurator Markus Maier
Der Blick, überwältigt ob der Größe, wandert zu den Bogennischen und hoch zur Öffnung in der Kuppel. Ein unbestimmtes Gefühl stellt sich ein, winzig und gleichzeitig riesig zu sein – wie die Menschen etwa in den berühmten Carceri, den 1750 von Piranesi erfundenen düsteren Kerker-Räumen. Die Betrachter hingegen sind nicht rettungslos verloren in einem alptraumhaft verschachtelten Labyrinth. Eher fasziniert. Denn auf dem Weg durch die Ausstellung stellen sich die angekündigten Überraschungen ein.

Die Carceri aus der Serie der Rom-Veduten fordern laut Kurator Maier zu einer vergleichenden Betrachtung mit den Arbeiten Reiters und Fletchers heraus: "Da sind nicht nur ähnliche Effekte malerischer und emotional wirkender Hell-Dunkel-Kontraste, nicht nur eine raumbrechende Energie großer und kleiner Formspuren." Es gebe ebenso vergleichbare rhythmische Kaskaden von Kurven und Bögen, ähnlich strukturierende Ausstattungsgegenstände wie durchhängende Taue. "Es entwickelt sich ein geradezu magischer Sog der Übereinstimmungen bei gleichzeitig jeweils eigenständiger Bildsprache."
Der bei Coburg lebende Robert Reiter und der amerikanische Kunstprofessor Kevin Fletcher stehen beide im Bann der Ruinenästhetik, die Piranesi so gründlich und so endgültig verändert hat, sagt Museumsdirektor Damian Dombrowski. Das Augenmerk Reiters sei dabei auf den Verfall von Vergangenheitszeugen gerichtet, von Ruinen römischer Massenbauten wie den Caracalla-Thermen. Fletcher hingegen "entwirft packende, düstere, bisweilen brachiale Dystopien, die nicht selten an Industrieruinen erinnern, nächtlich-undeutliche Hinweise auf die einstige Gegenwart des Menschen, eine Archäologie der Zukunft".

Fletchers Räume erinnern teilweise auch an die ersten Fotos, die kurz nach der "Nine Eleven"-Katastrophe in New York entstanden, an die spitz aufragenden Bruchstücke der Fassade des World Trade Centers. Doch der Künstler hat viele seiner dunklen Szenarien Jahre vor dem Terroranschlag von 2001 geschaffen.
Spannend sind auch die Bezüge, die Maier zum zerstörten Würzburg aufzeigt und die sich in Fotografien Heiner Reitbergers vergegenwärtigen. Ein anderer "Piranesi-Effekt" stellt sich in den gewaltigen Dimensionen der Residenz ein. Und hier gibt es auch zeitliche Bezüge: Piranesi wurde 1720 geboren, dem Jahr der Grundsteinlegung der Residenz. Nächstes Jahr wird zudem nicht nur der 300. Geburtstag des Künstlers und des Baubeginns gefeiert, sondern auch der 250. Todestag Giovanni Battista Tiepolos, Schöpfer des Treppenhausfreskos. Piranesi wiederum hat in jungen Jahren bei Tiepolo gearbeitet. Eine Ausstellung mit vielen Verbindungen. Und eine von Künstlern, die sich über die Zeiten hinweg und über die Kunst "die Hände reichen" (Dombrowski).
Ausstellung „Reiz der Ruine“, bis 20. Februar 2020 in der kleinen Galerie des Martin von Wagner Museums der Universität Würzburg im Südflügel der Residenz. Öffnungszeiten: Di.-Sa. 10-13.30 Uhr, So. 10-13.30 Uhr (im Wechsel mit der Antikensammlung).
Literaturtipp: Zur Ausstellung ist ein aufwändig gestalteter Katalog erschienen. Darin beschreibt Kurator Markus Maier nicht nur, was zu sehen ist, sondern wie die Werke entstanden sind. Zudem sind die Fotografien Heiner Reitbergers abgebildet, die in der Ausstellung nicht zu sehen sind.