Ausnahmsweise kein Familiendrama in der guten Stube, wie es im Intimen Theater gerne mal gespielt wird. Zwar führt der britische Autor James Fritz in "4 min 12 sek" das Publikum mitten hinein ins Milieu gutbürgerlichen Anstands. Doch so wie Ingo Pfeiffer die Geschichte in Maßbach inszeniert, führt sie gleich wieder heraus aus der Komfortzone.
Die Mitte der Bühne von Wolfgang Clausnitzer (Kostüme: Jutta Reinhard) dominiert ein drehbarer Kubus aus Metallgestänge mit transparenter Rückwand. Zentrales Requisit: ein Schwingstuhl. Eine Art Verhörraum? Eine Echokammer? Um 180 Grad gedreht, entsteht die Andeutung einer Musikkneipe oder die Behausung eines Teenies. An der Bühnenrückwand taucht regelmäßig die Projektion einer pornografischen Szene auf. Mehr braucht es nicht an visuellen Reizen, um den Wurzeln zweier Tragödien näherzukommen. Nichts ist wichtiger, als der Eskalation der Wortwechsel zu lauschen, die das Stück knappe zwei Stunden lang bestimmen.
Im Netz verbreiten sich intimste Informationen in Sekundenschnelle weltweit
Die erste Tragödie wohnt in den Köpfen der Menschen, gut versteckt in geheimen Tabuzonen. Die zweite findet sich in den Tiefen des World Wide Web. Eine Spur führt zur dunklen Seite sexueller Fantasien, zu Grenzüberschreitungen durch Gewalt, die physisch und psychisch verletzen. Die zweite Spur verliert sich im Sumpf pervertierter Kommunikation in sozialen Medien, in denen sich intimste Informationen in Sekundenschnelle weltweit verbreiten und die Verursacher jegliche Kontrolle verlieren. Gründe, selbstproduzierte pornografische Videos ins Netz zu stellen, findet man am ehesten in einem Gemisch aus Eitelkeit, Egomanie, Selbstüberhöhung, Neugierde und außer Kontrolle geratenen Begierden.

Die Geschichte beginnt ganz alltäglich. Di und David (Susanne Pfeiffer und Marc Marchand) sind die Eltern des 17-jährigen Jake. Er ist der ganze Stolz des wohlsituierten Paares aus einem nobleren Londoner Stadtviertel. Er sieht gut aus, steht mit exzellenten Noten kurz vor dem Abitur. Aus Sicht der Eltern besteht kein Zweifel an Jakes weiterem Karrieregang. Wenn da nicht ein Videoclip von 4 Minuten und 12 Sekunden Länge wäre, der im Netz viral ging und bereits über eine halbe Millionen Klicks verzeichnete. Der Sohn hat dem Vater wohl seine Version der Ereignisse gebeichtet und der erzählt der Mutter nun häppchenweise davon. Das Video zeigt Jake und seine Exfreundin Cara in einer pornografischen Situation.
Doch die Legende vom unschuldigen Sohn bröckelt mehr und mehr
In einem ersten Disput offenbart sich der klägliche Versuch der Eltern, sich die Katastrophe schönzureden und den Sohn reinzuwaschen. In ihrer Verzweiflung versucht die Mutter sogar, Jakes Freund Nick und Cara, die Jake nach dem Vorfall verlassen hat (glaubwürdig: Yannick Rey und Maßbachdebütantin Fenja Abel), zu beeinflussen. Doch die Legende vom unschuldigen Sohn (der im Stück selbst nicht erscheint) bröckelt mit jeder Variante der Rechtfertigung mehr und mehr. Jake hat Cara sexuell missbraucht. Und die Frage, wer das Video im Netz gestellt hat, ist immer noch offen.
James Fritz ist ein präziser Beobachter der sprachlichen Mechanismen, mit denen man sich unbequeme Wahrheiten schönredet. Über die rhetorischen Verstrickungen von David und Di lässt sich durchaus schmunzeln, über ihren selbsterbauten Käfig aus Lebenslügen und Rechtfertigungen weit weniger. Susanne Pfeiffer mimt den Spagat zwischen rigider Übermutter und überforderter Fassadenreinigerin überzeugend. Die bedrohlich dunklen Seiten Davids hingegen treten in Marc Marchands Interpretation nicht so zu Tage, wie sie es sollten.
Ein gutes Ende zum bösen Stück? Das darf es nicht geben. Aber ein realistisches allemal.
Vorstellungen bis 15. April im Intimen Theater und auf Gastspielen. Infotelefon (09735) 235. www.theater-massbach.de