Wer ist die Schöne mit dem rätselhaften Lächeln? Leonardo da Vincis "Mona Lisa" befeuert Fantasien, Spekulationen, Verschwörungstheorien. Leonardo-Biograf Klaus-Rüdiger Mai ("Leonardos Geheimnis") bevorzugt die nahe liegende Antwort: Es ist Lisa del Giocondo, die Frau jenes Florentiner Handelsmanns, der das Porträt in Auftrag gab. Irgendwie ist sie es aber auch nicht. Gerade diese Mehrdeutigkeit hilft, sich Leonardo, der am 2. Mai vor 500 Jahren starb, zu nähern.
In der profanen Wirklichkeit hatte die dritte Gattin des Tuch- und Seidenhändlers wohl wenig Rätselhaftes an sich. "Lisa war eine ganz normale, junge Frau, für die damalige Zeit wahrscheinlich hübsch", sagt Mai. Das zeige ein Porträt, das Raffael zeichnete.
Schicht für Schicht zur Wahrheit
Leonardo brachte für sein Porträt der Dame die Ölfarbe Schicht für Schicht auf eine Pappelholz-Platte. Hauchdünn und so meisterhaft, dass nirgendwo ein Pinselstrich zu sehen ist. Schicht für Schicht wollte Leonardo mit dieser "Sfumato"-Technik immer weiter vordringen: zu Wahrheiten, die unter der Oberfläche stecken. Vielleicht zum Wesen des Menschen überhaupt.
Schicht für Schicht entfernte sich der Maler aber auch von seinem Modell. So weit, dass am Ende "nicht Mona Lisa del Giocondo auf dem berühmten Gemälde im Pariser Louvre zu sehen ist", so Klaus-Rüdiger Mai, denn: Über Jahre hinweg – er hat das Porträt nie hergegeben – "malte Leonardo das Bild immer mehr zu sich hin", sagt Mai. Steckte Immer mehr von sich selbst hinein.
Leonardo hat sich in der "Mona Lisa" dargestellt. Aber nicht im Sinne eines platten Selbstbildnisses als Frau. Es geht um viel mehr. Auch um Androgynität, das Zusammensehen der Geschlechter.

Für Mai ist "'Mona Lisa' eine Frage Leonardos an sich selbst – und vielleicht auch an den heutigen Betrachter: 'Wer bist du?'" Malen war ihm ein Mittel zur Selbsterkenntnis. Vielleicht sogar ein Versuch, mit der Vergänglichkeit fertig zu werden. "Er arbeitete sehr bewusst daran, in der Nachwelt präsent zu bleiben – und so die Zeit zu überlisten", glaubt der Biograf.
Um gegen die Vergänglichkeit anzuarbeiten, versuchte der Mann aus dem toskanischen Vinci, der schon als Kind ein "obsessiver Zeichner" war (Mai), die Grenzen seiner Kunst zu sprengen. Er wollte in die Struktur der Wirklichkeit eindringen.
Versteckte Botschaften
Auch das "Abendmahl" im Mailänder Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie ist mehr als die Abbildung einer Standard-Szene. Auch hier versuchte Leonardo Nichtsichtbares sichtbar zu machen. "Dargestellt ist nicht die Einsetzung der Eucharistie, sondern die Geschichte eines Verrats", erklärt Klaus-Rüdiger Mai – es geht um Judas. "Leonardo zeigt, wie unterschiedlich Menschen auf Verrat reagieren – durch die Art, wie er die Figuren in ihren Bewegungen festgehalten hat." Das berühmte Wandbild ist Psychologie pur. Und das im 15. Jahrhundert!
Kunst hat immer mehrere Bedeutungsebenen und auch andere Renaissance-Maler – Michelangelo, Botticelli – transportierten Botschaften. Leonardo ging weiter, er ging ins Extrem. Nur was er als perfekt empfand, wollte er herausgeben. Wenn ihn ein Projekt nicht mehr interessierte, ließ er es fallen und wandte sich Neuem zu. Dementsprechend überschaubar ist sein malerisches Werk. Nur etwa ein Dutzend Gemälde lassen sich zuschreiben. Signiert wurde damals nicht. Maler galten nur als Handwerker.

Leonardo umging das möglicherweise: Seine "Felsengrottenmadonna" habe er verschlüsselt signiert, so die Kunsthistoriker Benjamin Blech und Roy Doliner in ihrem Buch "The Sistine Secrets" ("Die sixtinischen Geheimnisse"): Die untereinander gemalten Hände der Muttergottes, des Engels und des Jesuskindes formten in einer damals üblichen Zeichensprache die Buchstaben L, D und V – Leonardo da Vinci.
Man muss nicht auf Dan Browns Fiktion vom "Da Vinci-Code" zurückgreifen, um in der "Felsengrottenmadonna" noch andere Geheimnisse zu entdecken. Renaissance-Kenner Mai sieht darin eine Stellungnahme zum damaligen Streit um die "Unbefleckte Empfängnis" Mariens zwischen Dominikanern und Franziskanern. Leonardo schuf sein Bild im Auftrag einer Franziskanischen Laienbruderschaft – und untermauerte hintersinnig deren Position: Er hat das meiste Licht auf den Johannesknaben links im Bild gelegt. Johannes war Chiffre für den Franziskanerorden (Mai: "Die Betrachter damals wussten das"). Jesus segnet Johannes, also die Franziskaner und – wenn man so will – deren Position im Streit um die "Unbefleckte Empfängnis".
Nicht nur als Maler suchte Leonardo nach den Mechanismen der Schöpfung. Auch in zahllosen technischen Zeichnungen war er ihnen auf der Spur. Er entwarf Maschinen, vom Hubschrauber bis zum Fallschirm, vom U-Boot bis zum Panzer. Um das räumliche Sehen zu erforschen, versuchte er wohl auch,ein 3-D-Bild zu erzeugen. Mit der "Mona Lisa" und ihrer Kopie aus dem Madrider Prado, die vermutlich ein Leonardo-Schüler malte, lässt sich dem Auge tatsächlich ein räumliches Bild vorgaukeln. Das zeigte der Wahrnehmungspsychologe Claus-Christian Carbon. Der Bamberger Professor glaubt allerdings, dass Leonardo letztlich scheiterte. Der 3-D-Effekt existiert zwar, lässt sich aber nur mit heutiger Technik erzeugen.
Wichtig ist: Leonardo experimentierte, probierte aus, untersuchte. Er war ein Vorreiter der modernen, empirisch orientierten Wissenschaft.

Genies sind eigenwillig. Auf Leonardo, den 1452 geborenen unehelichen Sohn eines angesehenen Notars, traf dieses Klischee wohl zu. "Er hatte schon eine sehr eigene Art, in der Welt zu sein", sagt sein Biograf. "Aber keiner nahm Anstoß daran." Zeitgenossen schilderten den schon zu Lebzeiten legendären Meister als liebenswürdigen, etwas verträumten Menschen. Der Vegetarier und Linkshänder (er schrieb von rechts nach links) hatte Phasen, wo er die Einsamkeit suchte, inszenierte sich aber auch gerne in der Öffentlichkeit: "Er trat oft in Begleitung junger Männer auf, bestens gekleidet, auch in Rosa."
Offenbar konnte er seine Homosexualität leben. Sie war zwar verboten, sei aber in Florenz und Mailand selten bestraft worden, so Mai. Eine Anzeige gegen Leonardo und andere wegen "Sodomie" verlief laut Mai im Sande. Dabei sei es eher um Neid unter Konkurrenten gegangen als um Homosexualität.
Ungewöhnlich für die damalige Zeit war auch: Leonardo wusch sich. Täglich! Die Verbesserung der Hygiene war, nach der Pest-Epidemie 1484/85 in Mailand, Antrieb für Leonardo, eine ideale Stadt zu entwerfen. Eins zu eins umgesetzt wurde der Plan nie. Doch einzelne Ideen – etwa das Abwasser abzuleiten oder Licht und Luft zwischen die Häuser zu bringen – waren wegweisend.

Personen Leonardo da Vinci wurde am 15. April 1452 im toskanischen Vinci als uneheliches Kind geboren. Im Alter von zehn Jahren zog er mit seinem Vater, einem Notar, nach Florenz, wo ihn dieser in der Werkstatt von Andrea del Verrocchio, einem der erfolgreichsten Maler und Bildhauer der Stadt, als Schüler unterbrachte. Zehn Jahre später eröffnete Leonardo in der Florentiner Altstadt seine erste eigene Werkstatt. 1482 zog er nach Mailand. 1499 ging er zurück nach Florenz und wenige Jahre später wiederum nach Mailand. 1517 zog er im Auftrag von König Franz I. ins französische Amboise im Loiretal, wo er am 2. Mai 1519 starb. Klaus-Rüdiger Mai, Dr. phil., Jahrgang 1963, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Er verfasst neben historischen Romanen unter dem Pseudonym Sebastian Fleming auch Sachbücher und Biografien (darunter Luther, Dürer und Gutenberg). Nun ist seine da-Vinci-Biografie erschienen (Leonardos Geheimnis – Die Biographie eines Universalgenies, Evangelische Verlagsanstalt, 432 Seiten mit Abbildungen, 25 Euro). Der Autor lebt in Dabendorf in der Nähe von Berlin.