Sitting Bull, Geronimo, Cochise – berühmte Häuptlinge und historische Gestalten der amerikanischen Geschichte. Der berühmteste aller Indianerhäuptlinge aber ist Winnetou – zumindest aus deutscher Sicht. Legende, Mythos, Traumbild des edlen Helden. Generationen abenteuerhungriger Knaben waren überzeugt: Winnetou hat tatsächlich gelebt, war der Blutsbruder Old Shatterhands, ist auf seinem Rapphengst Iltschi durch die Prärie geritten, wurde am 2. September 1874 erschossen und im Tal des Metsur-Flüsschens in den Rocky Mountains begraben.
Es gehörte zu den Realitäten des Erwachsenenlebens, irgendwann zu begreifen, dass das Idol nur Produkt wild wuchernder Fantasie war. Der Schöpfer der Winnetou-Figur, der Schriftsteller Karl May, hatte alles daran gesetzt, seine Leser im Glauben zu lassen, der Apachenhäuptling sei ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen. Die Nachwirkungen dieser – marketingtechnisch gesehen – geschickten Schwindelei waren beträchtlich. Bis heute kennt hierzulande so gut wie jeder den Namen Winnetou, er ist ein deutscher Mythos wie kaum ein zweiter. Und dieser Mythos hat seit über 50 Jahren ein unverwechselbares Gesicht: das eines französischen Schauspielers.
Es dürfte keine andere Gestalt der Literatur geben, deren Existenz auf der Kinoleinwand durch einen einzigen Darsteller so nachhaltig geprägt wurde wie Winnetou durch Pierre Brice.
Konkurrenz für eine Ikone
Am Weihnachtsfest 2016 soll nun dieser Ikone der Filmgeschichte Konkurrenz gemacht werden. Der Fernsehsender RTL schickt den albanischen Schauspieler Nik Xhelilay ins Rennen, um in drei Teilen den Deutschen die Geschichte ihres Winnetou noch einmal neu zu erzählen.

Begonnen hat diese Geschichte im September 1875. Da veröffentlichte ein völlig unbekannter Autor namens Karl May im Deutschen Familienblatt, Wochenschrift für Geist und Gemüth zur Unterhaltung für Jedermann in Dresden die erste Folge einer längeren Erzählung mit dem Titel „Old Firehand“. Sie stammte angeblich aus der Mappe eines Vielgereisten; damit wurde suggeriert, der Erzähler berichte hier von tatsächlichen Ereignissen. Was keiner wusste: Der „vielgereiste“ Karl May war erst im Jahr davor aus dem Zuchthaus entlassen worden, wo er eine vierjährige Haftstrafe abgesessen hatte. Von der weiten Welt hatte er so gut wie nichts gesehen. Die Veröffentlichung der Erzählung war einer seiner verzweifelten Versuche, als Schriftsteller Fuß zu fassen.
Denn der 33-jährige May, Sohn blutarmer Weber aus dem Erzgebirge, hatte bereits eine gescheiterte Laufbahn als Lehrer und eine verwegene Karriere als Kleinkrimineller mit mehreren Aufenthalten in diversen Haftanstalten hinter sich. Das Einzige, was er besaß, waren eine blühende Fantasie und ein manischer Schreibdrang.
In der Epoche großer Auswanderungsbewegungen war auch im Königreich Sachsen das Interesse an Geschichten aus Amerika vorhanden, und Karl May hatte beschlossen, daraus Kapital zu schlagen. Der Weg vom Lohnschreiber zum Bestsellerautor war allerdings ein langer. Den Keim dazu legte er mit„Old Firehand“. Denn hier tritt zum ersten Mal der Apachenhäuptling Winnetou auf – allerdings noch recht roh in Gestalt eines blutrünstigen Skalpjägers.

Es ist viel gerätselt worden, woher Karl May den Namen „Winnetou“ hatte. Bis heute gibt es keine beweisbare Erklärung dafür. Er selbst soll einmal gesagt haben, der Name bedeute „Brennendes Wasser“, aber das kann aus keiner einzigen indianischen Sprache heraus belegt werden.
Immer wieder tauchte Winnetou in Erzählungen Karl Mays auf, doch erst 1893 erzählte der zu Renommee und Wohlstand gekommene Schriftsteller die Geschichte so, wie man sie kennt: als Abenteuerroman aus der Perspektive eines Greenhorns, eines Landvermessers beim Bau der großen Eisenbahn. Karl May spiegelt sein eigenes Ich darin, stilisiert sich zum Superhelden Old Shatterhand, der zum Blutsbruder Winnetous wird.
Zwei Blutsbrüder durch dick und dünn
Damit war der Mythos geboren. Der Mythos einer Männerfreundschaft zweier Helden, die gemeinsam durch Dick und Dünn gehen. Und der Mythos des edlen Indianers, der am Ende seines kurzen Lebens mit den unsterblichen Worten auf den Lippen stirbt: „Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!“
Karl May verstand sich eben auch als Prediger, als Missionar und als Erzieher der Jugend. Seine Leser waren begeistert. Innerhalb eines Jahres erschienen die drei Winnetou-Bände hintereinander, und auch wenn der Apache am Ende des dritten Bandes in die ewigen Jagdgründe eingeht, lässt ihn der Autor in einigen späteren Büchern erneut auftreten. Karl Mays Ruhm verblasste im Lauf der Zeit.
Er starb 1912 und wurde danach immer mehr zum Trivialautor von Jugendbüchern herabgewürdigt. Sein Winnetou aber blieb im Bewusstsein der Deutschen, und 1962 wurde er unverhofft noch einmal quicklebendig.
Zum ersten Mal ritt der Apachenhäuptling in „Der Schatz im Silbersee“ über die Kinoleinwand, zehn weitere Filme folgten. Pierre Brice und Lex Barker wurden zu Stars, vor allem der smarte Franzose avancierte zum Liebling der Teenies von damals.
Wer kann sich Winnetou anders vorstellen? Man darf gespannt sein, ob die neue RTL-Produktion an genau dieser Frage scheitert. Die Filme der 60er Jahre waren eher schwach, die Storys entfernten sich immer mehr von den Buchvorlagen, aber die Aufnahmen von den Karstlandschaften Kroatiens und vor allem die Musik von Martin Böttcher führten doch dazu, dass sie bis heute einen gewissen Kultstatus haben. Dem Schriftsteller Karl May hat das letztlich wenig genutzt. Nach einem kurzzeitigen Boom sind seine Bücher aus dem Buchhandel so gut wie verschwunden. Ob sich das noch einmal ändern wird? RTL wirbt mit dem Slogan „Winnetou – der Mythos lebt“. Man wird sehen.

Unser Gastautor Lothar Reichel ist Redaktionsleiter der Radioredaktion der Diözese Würzburg, Kenner und Bewunderer des Werks von Karl May, Mitglied der Karl-May-Gesellschaft und Autor des Jugendromans „Winnetou darf nicht sterben“.
Die Sendetermine: Teil 1: „Winnetou – Eine neue Welt”, So., 25. Dezember, 20.15 Uhr,RTL Teil 2: „Winnetou – Das Geheimnis vom Silbersee”, Di., 27. Dezember, 20.15 Uhr, RTL Teil 3: „Winnetou – Der letzte Kampf”, Do., 29. Dezember, 20.15 Uhr, RTL