Wie - fast - jedes Jahr beginnen auch in diesem Jahr die Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele am 25. Juli. Auf dem Programm stehen zwei Neuinszenierungen: "Tristan und Isolde" und der vierteilige "Ring des Nibelungen". Für seine Fans ist Richard Wagner (1813-1883) der größte Künstler mindestens des 19. Jahrhunderts, für seine Gegner ein ideologischer Vorläufer der Nationalsozialisten. Vieles an seinem Bild ist bis heute klischeebeladen und verzerrt. Zeit also, die wichtigsten Klischees unter die Lupe zu nehmen.
1. Wagner ist nur was für Insider und/oder Wohlhabende

Wieviel Vorkenntnisse man haben sollte, um Wagner genießen zu können, wird bis heute auch und gerade von Wagner-Kennern diskutiert. Der Künstler selbst hatte den Anspruch, dass seine Kunst allen zugänglich sein sollte. Ohne Wissenshürden und schon gar nicht nur den irgendwie Bessergestellten. Im Gegenteil: Wagner verstand sich als Revolutionär, der saturierte bürgerliche Opernbetrieb seiner Zeit war ihm zutiefst verhasst.
Sehr wohl aber verlangt Wagner Engagement, Geduld und Sitzfleisch. Und eine gewisse Neugier. Auch hilft es, vor einem Opernbesuch die Handlung durchzulesen. Alles andere kommt dann ganz von selbst. Stephen Fry, der englische Schriftsteller, Schauspieler, Comedian und Journalist empfiehlt: "Wenn Sie Wagners Musik und seine Dramen nie erlebt haben, dann beschwöre ich Sie, es zu versuchen. Wir leben schließlich nur einmal."
Fazit: Dieses Klischee ist falsch.
2. Wagner ist immer bombastisch und laut

Das Orchester Richard Wagners ist riesig. Im "Ring" zum Beispiel sind vier Harfen vorgeschrieben, von der Fülle an Blechblasinstrumenten gar nicht zu reden. Aber: Der Komponist setzt sie höchst selten alle gleichzeitig ein. Ihm geht es um ganz bestimmte Klangfarben, die Handlung und Emotionen auf der Bühne illustrieren sollen. Das ist unglaublich präzise und vielschichtig und allein schon deshalb faszinierend, weil man oft nicht entschlüsseln kann, wie bestimmte Klänge zusammengesetzt sind. Wenn es dann doch mal richtig laut wird, ist das ein überwältigender Effekt.
Der große Dirigent und Pianist Daniel Barenboim, geboren 1942, nennt als Bespiel für Wagners kompositorische Geschicklichkeit den wütenden Sturm zu Beginn der "Walküre". Das Unwetter wird anfangs nur von den Streichern dargestellt. Barenboim: "Das Ergebnis ist ein Klang, der viel nackter, direkter und kompakter ist als ein volles Wagner-Orchester mit Blech und Pauken an dieser Stelle wäre."
Fazit: Dieses Klischee ist falsch.
3. Wagners Opern bereiten weltfremde, verstaubte Mythen auf

Zu Wagners Zeit war die "Grand Opéra" der letzte Schrei. Darin wurden mit riesigem Aufwand (und Ballett) bedeutsame Ereignisse der Weltgeschichte verarbeitet. Etwa das Konzil von Konstanz von 1414. Oder die Bartholomäusnacht von 1572. Wagner fand diese Stoffe zu lebensfern und zu speziell. Sie seien nur aus dem jeweiligen historischen Kontext zu verstehen. Bewusst griff er deswegen mythische Stoffe auf, die allgemeinverständlich sein sollten, weil darin urmenschliche Probleme verhandelt werden.
Wagner interessierte das "Reinmenschliche", wie er es nannte. "Tristan und Isolde" etwa behandelt einen unauflöslichen Konflikt zwischen Pflicht und Liebe. Die Konsequenz: Alles Sehnen, alle Liebe findet nur im Tod Erfüllung. Zugegeben kein Alltagsproblem, aber Vorkenntnisse, um die Nöte der Figuren zu verstehen, braucht man tatsächlich nicht. Im "Ring" wiederum geht es so gnadenlos um Gier, Macht und Moral, dass dagegen Fernsehserien wie "Dallas" oder – moderner – "Breaking Bad" wie Kindergeburtstage wirken.
Fazit: Dieses Klischee ist falsch.
4. Wagner war Antisemit

Der 1850 veröffentlichte Aufsatz "Das Judenthum in der Musik" wirft einen tiefen Schatten auf Charakter und Persönlichkeit Richard Wagners. Darin vertritt der Autor etwa die absurde These, dass "der Jude" zu keiner eigenen kreativen Leistung fähig sei. Er könne "nur nachsprechen" oder "nachkünsteln". Ja, Wagner war Antisemit, eine Tatsache, die auch nicht dadurch gemildert wird, dass diese Haltung in Europa weit verbreitet war und sich Wagners Abneigung wohl auch aus dem Neid auf seine jüdischen Zeitgenossen Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) und Giacomo Meyerbeer (1791-1864) speiste.
Daniel Barenboim, selbst Jude, gilt als einer der bedeutendsten Wagner-Interpreten. Er hat sich immer wieder für dessen Werk eingesetzt, etwa, als er 2001 in Israel Vorspiel und Liebestod aus "Tristan und Isolde" aufführte – übrigens erst nach eingehender Diskussion mit dem Publikum. Den vorgeblichen Eklat habe die Politik erst anschließend inszeniert, schreibt Barenboim. Wagners Musik sei in Israel nicht wegen Wagners Antisemitismus tabuisiert worden, sondern vielmehr wegen des nationalsozialistischen Missbrauchs.
Fazit: Dieses Klischee trifft zu.
5. Wagners Heldenkult hat den Aufstieg des Nationalsozialismus gefördert

Es ist bekannt, dass Richard Wagner ein großes Vorbild Adolf Hitlers war, wofür Wagner freilich nichts konnte. Es ist aber auch bekannt, dass Wagners Witwe Cosima (1837-1930) und seine Schwiegertochter Winifred (1897-1980) rechtsradikale und rassistische Ansichten vertraten und engste Beziehungen zu Hitler und den Nationalsozialisten pflegten. Unter Winifred wurde Bayreuth zur NS-Kultstätte. Erst mit ihrem Verzicht auf die Leitung 1949 konnten sich die der Bayreuther Festspiele allmählich unter dem Label "Neubayreuth" aus der NS-Verstrickung herausarbeiten.
Wer genauer hinschaut, wird bei Wagner selbst allerdings keinerlei Heldenkult entdecken. In seinen Dramen gibt es Figuren, die andere Figuren als Helden verehren, aber diese scheitern fast immer an sich selbst und/oder der Welt. Lohengrin muss unverrichteter Dinge abziehen, Tannhäuser verliert in seinem Egoismus alles, Tristan ergibt sich ganz seiner Todessehnsucht, Siegfried rennt in praktisch jedes offene Messer, und Wotan führt die Welt in den Untergang.
Wenn überhaupt, dann gibt es bei Wagner Heldinnen wie etwa Brünnhilde. Aber das Heldische ist nie zentrales Motiv, dafür sind die Dramen viel zu komplex und viel zu menschlich. Und so verteidigen auch und gerade Juden immer wieder Wagners Kunst. Stephen Fry etwa, der einen Teil seiner Familie im Holocaust verloren hat: "Ich glaube noch immer fest daran, das sein Werk wichtig ist und auf der Seite der Engel steht. Es ist von Grund auf gut."
Auch der jüdische Komponist Ernest Bloch weigerte sich, Wagners Musik als Besitztum der Nazis zu akzeptieren: "Die Musik der Nazis ist nicht das Vorspiel zu den Meistersingern, sondern das Horst-Wessel-Lied. Andere Ehre haben sie nicht, andere kann und soll ihnen nicht gegeben werden."
Fazit: Dieses Klischee ist falsch.