Lieber Alexander Hoffmann,
als CSU-Vertreter in der Wahlrechtskommission des Bundestags haben Sie sich dieser Tage mächtig über das Gesetz, das die Ampel-Parteien am Freitag durchgesetzt haben, empört. Zu Recht, wie ich finde. Das neue Wahlgesetz ist kein gutes. Es erfüllt zwar den Anspruch, die Zahl der Abgeordneten zu begrenzen - auf 630 statt der aktuell 736. Das ist richtig und wichtig, doch der politische Schaden, den SPD, Grüne und FDP gleichzeitig anrichten, ist groß. Womöglich verstößt das Gesetz sogar gegen die Verfassung, auf jeden Fall widerspricht es der demokratischen Kultur.
Dass einzelne Abgeordnete künftig nicht ins Parlament einziehen werden können, obwohl sie in ihrem Wahlkreis bei der Erststimme vorne liegen, ließe sich vielleicht noch verkraften. Auch wenn es dem Wahlvolk ein eigenartiges Signal sendet, dass die Gewinnerin oder der Gewinner in einem Wahlkreis nicht ins Parlament einrückt, die oder der im Nachbarwahlkreis aber schon.
Problematischer ist, dass künftig die sogenannte Grundmandatsklausel wegfällt, also die Regelung, dass eine Partei gemäß ihrem Zweitstimmenergebnis in den Bundestag einzieht, sobald sie drei Direktmandate gewonnen hat - egal ob sie bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde geschafft hat oder nicht. Wäre dieser Passus schon 2021 weggefallen, wäre die Linke nicht mehr im Bundestag. Und auch für die CSU könnte es künftig eng werden. Bundesweit umgerechnet, erreichte Ihre Partei, die ja nur in Bayern wählbar ist, bei der Wahl 2021 5,2 Prozent. Sie gewann aber 45 der 46 Direktmandate.
Die CSU hat sich jahrelang allen Versuchen, das Wahlrecht vernünftig zu verändern, verweigert
Jetzt mag es viele CSU'ler überraschen, dass ausgerechnet ihre führenden Köpfe Angst haben, die Partei könnte Probleme mit der Fünf-Prozent-Hürde bekommen. Prinzipiell aber haben Markus Söder und Co. recht: Die Vorstellung, dass kein einziger von über 40 bayerischen Wahlkreisgewinnern ins Parlament einziehen darf, mag die politische Konkurrenz erfreuen, demokratischen Grundprinzipien entspricht sie nicht.

Als bayerischer Demokrat kann ich eine mögliche Klage vor dem Verfassungsgericht gut verstehen. Aber: So ein Schritt wäre sehr viel glaubwürdiger, wenn die CSU bei aller Empörung einräumen würde, dass sie Mitverantwortung für den Schlamassel trägt, der jetzt eingetreten ist. Jahrelang hat sich Ihre Partei, lieber Herr Hoffmann, nämlich allen Versuchen, das Wahlrecht vernünftig zu verändern und den Bundestag so zu verkleinern, verweigert.
Der praktikabelste Vorschlag kam von Grünen, FDP und Linken
Mit Engelszungen haben die Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble, beide bekanntlich keine Linken, die Parteien beschworen, eine Lösung zu finden. Vor allem an der CSU sind alle Anläufe gescheitert. Den praktikabelsten Vorschlag hatten in GroKo-Zeiten Grüne, FDP und Linke gemeinsam vorgelegt. Er sah vor, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 zu reduzieren, ansonsten aber das in 70 Jahren Republik-Geschichte bewährte personalisierte Verhältniswahlrecht im Wesentlichen so zu belassen, wie es ist. Es hätte vermutlich weiter Überhang- und Ausgleichsmandate gegeben, aber insgesamt wäre der Bundestag wieder kleiner geworden.
Alle Parteien hätten so gleichermaßen Federn gelassen. Doch die CSU wollte kein einziges Mandat hergeben. Also nahm sie die GroKo-Partner CDU und SPD in Geiselhaft - und blockierte. Auch dass die Menschen an den Stammtischen, auf deren Meinung die CSU ja angeblich so zählt, über einen Bundestag lästerten, der in der Größe nur noch vom chinesischen Volkskongress übertroffen wird und den Steuerzahler ständig mehr Millionen kostet, war Ihren Parteifreunden wurscht. Das Machtinteresse jedes einzelnen Abgeordneten wog schwerer.
Niemand darf sich über Politikverdrossenheit wundern
Von Ihrer Seite, lieber Herr Hoffmann, gab es zuletzt den Vorschlag, ein sogenanntes Grabenwahlrecht einzuführen. Das würde bedeuten, ein Teil der Parlamentarier wird in Wahlkreisen gewählt, der andere per Verhältniswahl, ohne dass zwischen beiden Teilen, wie bislang, eine Verrechnung stattfindet. Eine Lösung zum Nachteil von kleineren Parteien wie der FDP. Eine Lösung, von der - wer hätte es gedacht - vor allem auch die CSU profitieren würde.
Die Lage also ist vertrackt. Die Parteien in Deutschland scheinen nicht in der Lage zu sein, sich auf ein faires Wahlrecht zu einigen. Wenn die CSU nun klagt, muss es halt wieder das Verfassungsgericht richten. Das ist bitter. Ein Armutszeugnis nicht nur für die Ampel, sondern auch für die CSU. Da darf sich niemand über Politikverdrossenheit wundern.
Mit besten Grüßen,
Michael Czygan (Redakteur)
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