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Berlin: Samstagsbrief: Die Gesellschaft hat Fieber, Frau Merkel

Berlin

Samstagsbrief: Die Gesellschaft hat Fieber, Frau Merkel

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    Bundeskanzlerin Angela Merkel
    Bundeskanzlerin Angela Merkel Foto: Michael Kappeler, dpa

    Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

    diese Woche haben Sie in Ihrer Regierungserklärung einen Satz gesagt, der nicht in den Schlagzeilen gelandet ist, aus meiner Sicht aber extrem wichtig war: Die Corona-Pandemie, sagten Sie im Bundestag, "ist eine medizinische, eine ökonomische, eine soziale, eine politische, eine psychische Bewährungsprobe". Ich glaube, dass das in den zurückliegenden Monaten zu oft vergessen wurde: Corona trifft nicht nur unsere Gesundheit und die Wirtschaft, sondern auch unsere Gesellschaft.

    Das Virus und die Maßnahmen, die es bekämpfen sollen, haben die Stimmung im Land aufgeheizt. Oder um es medizinisch auszudrücken: Die Gesellschaft hat Fieber. Ich rede hier nicht von den Corona-Leugnern, den Verschwörungstheoretikern, den Möchte-gern-Reichstagsstürmern. Ich rede von normalen, vernünftigen Bürgerinnen und Bürgern, die konkrete Einschränkungen und Regeln, die ihre ganz persönliche Lebenswirklichkeit betreffen, nicht nachvollziehen können.

    Da ist der Sportlehrer, der nicht versteht, dass sich seine Schüler gruppenweise in separaten Räumen umziehen müssen, dann aber gemeinsam in einer Halle Volleyball spielen sollen. Da ist der Polizist, der sich fragt, wie er die Einhaltung der Corona-Maßnahmen kontrollieren soll, wenn konkrete Fälle in den Allgemeinverfügungen nicht geregelt sind oder viel Raum für Interpretation bleibt. Da ist die Schauspielerin, die nicht nachvollziehen kann, warum nun Theatervorstellungen verboten, Gottesdienste aber erlaubt sind. Und da ist der Wirt, der vor wenigen Wochen tausende Euro in Heizstrahler investiert hat, um Gäste möglichst lange im Freien empfangen zu können, und jetzt schließen muss. Das alles sind reale Beispiele, die mir von den Betroffenen erzählt wurden. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Und um ehrlich zu sein: In jedem Fall hatte ich größtes Verständnis für mein Gegenüber.

    Ich weiß nicht, ob Sie, Frau Merkel, solche Gespräche in Ihrem Umfeld auch erleben. Was ich in solchen Situationen stets wahrnehme, ist vor allem Wut. Nicht krawallartig. Es sind eher kleine Wutviren (Symptome einer Infektion: resigniertes Kopfschütteln, Faust in der Tasche), die sich genauso schnell verbreiten wie SARS-CoV-2: Wenn sich Lehrer, Polizist und Wirt über ihre Probleme unterhalten, nehmen sie die Wut des anderen mit und tragen sie so immer weiter. Eine schwer zu durchbrechende Infektionskette.

    Solche Wut-Infektionen, die in der Regel mit verschnupftem Zweifeln an der Sinnhaftigkeit der Maßnahmen generell einhergehen, sind unbehandelt gefährlich für die Gesellschaft und den Einzelnen. Die Vernunft der Bürger, an die Sie, Frau Merkel, in den vergangenen Monaten immer wieder appelliert haben, ist leider ein unzuverlässiges Heilmittel, weil sie in Teilen der Gesellschaft so rar ist wie der Grippeimpfstoff.

    Heilung verspricht nur Akzeptanz und Nachvollziehbarkeit der Einschränkungen. Sie sagten es selbst: In den kommenden Wochen und Monaten "wird entscheidend sein, dass möglichst alle verstehen, warum wir in dieser Zeit solche Maßnahmen ergreifen". Ihr Therapieansatz: "Es ist richtig, es ist wichtig, es ist unverzichtbar", dass die Maßnahmen "öffentlich diskutiert, öffentlich kritisiert und öffentlich auf ihre Angemessenheit hin befragt werden". Allein "durch die öffentliche Debatte über die politischen Entscheidungen kann Akzeptanz entstehen". Mein Eindruck ist, dass das Bedürfnis der Menschen nach Transparenz und Erklärungen noch lange nicht gestillt ist.

    Als Journalist mache ich mir Gedanken darüber, was Medien in diesen Zeiten beitragen müssen. Ich glaube, wir müssen noch genauer hinschauen und weiter konsequent und kritisch alles hinterfragen. Dafür nehmen wir gerne in Kauf, dass wir Politiker verärgern oder überlasteten Pressestellen noch mehr Arbeit machen. Die Gespräche, von denen ich Ihnen oben berichtet habe, zeigen mir die Notwendigkeit für dieses Tun.

    Und die Politik? Die Corona-Maßnahmen treffen jeden sehr individuell. Der Teufel sitzt im Detail. Sie, Frau Merkel, und die Ministerpräsidenten werden es daher nicht immer allen recht machen können und nicht immer sofort auf alles eine Antwort finden. Aber Sie müssen ihre Beschlüsse immer und immer wieder erklären – und sich trauen, sie gegebenenfalls zu korrigieren. Damit wir aus dieser Krise irgendwann herauskommen.

    Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand.

    Benjamin Stahl, Redakteur

    Einer bekommt Post: Der "Samstagsbrief" Jedes Wochenende lesen Sie unseren "Samstagsbrief". Was das ist? Ein offener Brief, den ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Person des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An jemanden, dem wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert soll der "Samstagsbrief" sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der "Samstagsbrief" ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir vom Adressaten Post zurück. Die Antwort und den Gegenbrief, den Briefwechsel also, finden Sie dann auf jeden Fall bei allen "Samstagsbriefen" hier. Und vielleicht bietet die Antwort desjenigen, der den "Samstagsbrief" zugestellt bekommt, ja auch Anlass für weitere Berichterstattung – an jedem Tag der Woche. Quelle:

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