Sehr geehrter Herr Lauterbach,
an diesem Montag gehen wir in eine weitere Lockdown-Verlängerung. Die wievielte das ist seit November – ich kann es gar nicht so genau sagen nach Lockdown light, hartem Lockdown, Weihnachts-Lockdown-Lockerung und Lockdown-Verschärfung. Da kann man gerade in Bayern schon mal durcheinanderkommen. Übrigens auch bei der Frage, was eigentlich gerade wo gilt. Ob ich 15 Kilometer von meinem Wohnort entfernt bei einem Inzidenzwert von unter 200 mit dem Mitglied eines weiteren Hausstands vor 21 Uhr ein Bier trinken darf? Die Antwort kann morgen schon völlig anders lauten als heute.

Gestatten Sie mir das bisschen Ironie, Herr Lauterbach. Dabei ist der Anlass dieses Schreibens durchaus ein ernster: Ich bin Lockdown-müde. Natürlich halte ich die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für notwendig. Zwar finde ich nicht jede Regelung sinnvoll, aber in der Gesamtheit führt sicher kein Weg an Einschränkungen vorbei. Gleichzeitig schlägt mir das ganze so langsam ziemlich aufs Gemüt. Damit bin ich nicht alleine.
Wenn ich Ihnen nun sage, wie sehr es mich nervt, dass ich für dieses Jahr noch keine Reise planen und im Moment noch nicht mal zum Lieblingsitaliener kann, mögen Sie zurecht von Luxusproblemen sprechen. Aber so hat eben gerade jeder sein ganz persönliches Lockdown-Päckchen zu tragen. Und diese Päckchen werden schwer, wenn man zum Beispiel als Elternteil die Kinderbetreuung organisieren muss oder als Selbstständiger seit Monaten Existenzsorgen hat.
Eben weil ich den Lockdown unterstütze und gleichzeitig satt habe, schreibe ich Ihnen, Herr Lauterbach. Sie haben nämlich in den ersten Januar-Tagen einen interessanten Vorschlag gemacht und einen unbefristeten Lockdown gefordert. Mein erster Gedanke war, dass Sie mit derlei Vorstößen die SPD bis zur Bundestagswahl diesen Herbst zuverlässig unter die Fünf-Prozent-Marke drücken.
Mein zweiter Gedanke galt den Verschwörungstheoretikern innerhalb und außerhalb der Parlamente. Die sehen im neuen Infektionsschutzgesetz, das Corona-Einschränkungen im Grundsatz auf vier Wochen befristet, bevor sie unter Angabe triftiger Gründe verlängert werden können, schon immer ein "Ermächtigungsgesetz". Als Grundlage einer "Corona-Diktatur". Dass das Quatsch ist, wissen wir beide. Dennoch dürfte ein Lockdown ohne Ablaufdatum Wasser auf deren Mühlen sein.

Mein dritter Gedanke war: Der Herr Bundestagsabgeordnete hat vielleicht gar nicht so unrecht. Sie forderten nämlich keinen Never-Ending-Lockdown, sondern ein Lockdown-Ende, das sich anstatt an einem Datum, an einem Ziel orientiert: Sie brachten einen Inzidenzwert von 25 ins Spiel. Das ging in der Aufregung der Schlagzeile "Lauterbach will unbefristeten Lockdown" unter. Der Charme, den ihr Vorschlag hat, besteht darin, dass jeder aktiv zu einem Lockdown-Ende beitragen kann: Nicht nur durch Warten auf ein Datum, das dann zum Frust aller wieder nicht gehalten werden kann. Sondern indem man sich an die Corona-Regeln hält und so mithilft, die Inzidenz weiter zu drücken. Und womöglich wäre diese Herangehensweise der Bevölkerung gegenüber auch ehrlicher.
Ob es tatsächlich die Inzidenz 25 sein muss und ob dieser Wert auf einen Landkreis, ein Bundesland oder die ganze Republik bezogen werden sollte, darüber müssten Experten befinden. Auch über die Frage, wie lange dieser Wert gehalten werden muss, bevor eine Rückkehr zur Normalität ermöglicht wird. Gleichzeitig bräuchte es eine Lösung für das Problem, dass die Inzidenzwerte teilweise stark schwanken und sich so Einschränkungen und Öffnungen in kurzer Zeit abwechseln könnten.
Eine Lockdown-Dauerschleife gilt es aber zu vermeiden: Viele Bereiche der Wirtschaft, die Gastronomie, das Kulturleben, die Schulen können nicht von heute auf morgen herunter- und wieder hochgefahren werden. Selbst wenn: Die Menschen macht das mürbe. Sie haben es ja schon richtig gesagt: "Noch einmal können wir strengere Maßnahmen kaum mehr begründen. Der Widerstand in der Bevölkerung wäre dann zu groß." Apropos Widerstand: Natürlich müssten auch verfassungsrechtliche Bedenken durch eine entsprechende Gesetzgebung ausgeräumt werden.

Sie sehen, Herr Lauterbach, zu Ende gedacht scheint Ihr Vorschlag noch nicht. Aber ich finde, man sollte ihn diskutieren. Überhaupt müsste die Suche nach dem Königsweg aus der Pandemie ein Wettbewerb der besten Ideen sein – und kein Streit zwischen Parteien, Bund und Ländern. Vielleicht sprechen Sie das ja mal an, wenn das nächste Mal Markus Lanz zu Gast in Ihrer Show ist.
Mit freundlichen Grüßen
Benjamin Stahl, Redakteur
Einer bekommt Post: Der "Samstagsbrief"Jedes Wochenende lesen Sie unseren "Samstagsbrief". Was das ist? Ein offener Brief, den ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Person des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An jemanden, dem wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur.Persönlich, direkt und pointiert formuliert soll der "Samstagsbrief" sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der "Samstagsbrief" ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir vom Adressaten Post zurück. Die Antwort und den Gegenbrief, den Briefwechsel also, finden Sie dann auf jeden Fall bei allen "Samstagsbriefen" hier. Und vielleicht bietet die Antwort desjenigen, der den "Samstagsbrief" zugestellt bekommt, ja auch Anlass für weitere Berichterstattung – an jedem Tag der Woche.Quelle: