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Würzburg: Samstagsbrief eines 60-Jährigen an seine Generation: Liebe Boomer, unser mieses Image ist Quatsch!

Würzburg

Samstagsbrief eines 60-Jährigen an seine Generation: Liebe Boomer, unser mieses Image ist Quatsch!

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    Als Boomer beziehungsweise Babyboomer (Boomerinnen sind ausdrücklich mitgemeint) werden die Nachkriegsjahrgänge 1946 bis 1964 bezeichnet.
    Als Boomer beziehungsweise Babyboomer (Boomerinnen sind ausdrücklich mitgemeint) werden die Nachkriegsjahrgänge 1946 bis 1964 bezeichnet. Foto: Getty Images

    Liebe Boomer,

    ich bin einer von Euch. Also ein Boomer, wenn auch ein später, weil Angehöriger des Jahrgangs 1964. Als Boomer oder Babyboomer (Boomerinnen sind ausdrücklich mitgemeint) werden die Nachkriegsjahrgänge 1946 bis 1964 bezeichnet, und schon diese große Spanne zeigt, wie unsinnig die Bezeichnung ist: Die 1946er wurden in ein zerstörtes Land geboren, wir 1964er mitten ins Wirtschaftswunder.

    Unsinnig oder nicht: Für pauschale Schuldzuweisungen taugt der Begriff Boomer allemal. Schlagzeilen wie "Die Boomer sind an allem schuld!" oder "'Ok Boomer' – sind Ältere eigentlich an allem schuld?" sind keine Seltenheit. Wegen uns kippt das Klima, wegen uns ist die Erde verstrahlt und verseucht, wegen uns sterben die Arten im Rekordtempo aus. Außerdem bewohnen wir viel zu große Wohnungen, fahren viel zu oft in Urlaub und sind überdies so absurd viele, dass nachfolgende Generationen nur für unsere Rente werden arbeiten müssen.

    Am Argument der schieren Menge ist was dran, auch wenn wir dafür nun wirklich nichts können: Allein mein Jahrgang 1964 ist mit 1.065.437 Neugeborenen im Westen und 291.867 im Osten der größte seit dem Krieg. Wir werden heuer 60 – noch arbeiten die meisten von uns, übrigens als erster Jahrgang bis 67, aber das Ende ist abzusehen.

    Es hat eine Weile gedauert, bis ich - erstens - begriffen habe, was ein Boomer ist, dass - zweitens - ich ein solcher bin, und dass - drittens - Boomer ein Schimpfwort ist. Gleichzeitig habe ich schlagartig verstanden, warum so viele von uns sich ständig rechtfertigen. Innerlich wie äußerlich, bewusst wie unbewusst. Deshalb hier und jetzt mein Appell an alle Mitboomerinnen und -boomer: Hört endlich auf, Euch für alle Übel dieser Welt schuldig zu fühlen!

    In unserer Kindheit gab es noch keine "Helikoptereltern"

    Unser mieses Image ist, zumindest in dieser Pauschalität, Quatsch. Das wäre ja, als würfe man den Millennials vor, sie bezögen ihre moralische Überlegenheit nur aus der Tatsache, dass sie neben dem SUV noch ein Lastenfahrrad in der Garage stehen haben. Oder der Generation Z, dass sie Tiktok für die größte Errungenschaft der Menschheit halte. Beides haltlose Behauptungen.

    Viele unserer Eltern hatten noch Kriegserinnerungen, viele unserer Lehrer waren kriegsversehrt und traumatisiert sowieso. Vielleicht blickten wir deshalb lieber nach vorn: Wir konnten es kaum erwarten, unser erstes Mofa, unser erstes Auto zu kaufen, wir bereisten die Welt, als es das Wort "Flugscham" noch lange nicht gab. Und setzten uns bereitwillig mit all den technischen Neuerungen auseinander, von Walkman über CD, Fax, Computer, Handy bis hin zu Internet und Social Media.

    Wir wurden in eine Gesellschaft geboren, die glaubte, die Menschheit könne nur durch Wachstum und Konsum fortbestehen. Inzwischen ist längst klar, dass genau das Gegenteil der Fall ist.

    Die 1964er hörten ihre Musik im Walkman und ertrotzten sich das Tragen von Jeans auch zu Anlässen, an denen eigentlich eine "Stoffhose" gefordert war.
    Die 1964er hörten ihre Musik im Walkman und ertrotzten sich das Tragen von Jeans auch zu Anlässen, an denen eigentlich eine "Stoffhose" gefordert war. Foto: Philipp Schulze, dpa

    Aber Ihr seht, liebe Mitboomer, jetzt bin ich selbst in die Rechtfertigungsspirale geraten. Dabei waren auch wir mal cool. In unserer Kindheit gab es noch keine "Helikoptereltern", was die Freizeitgestaltung erleichterte. Typische Folgen waren das berühmte "Loch im Kopf", das genäht werden musste, und der im Sommer fast unausweichliche Tritt in eine Glasscherbe. Glascontainer geschweige denn Mülltrennung lagen noch fern in der Zukunft, die Schuttabladeplätze waren einfach riesige Löcher in der Landschaft, auf deren Grund immer ein paar Schwelbrände vor sich hinkokelten.

    Ein neues Wort spiegelte das Unwohlsein wider: Konsumterror

    Einige von uns ahnten damals schon, dass es nicht ewig so weitergehen sollte. Das neue Wort "Konsumterror" spiegelte dieses Unwohlsein wider. Während unsere Eltern noch ganz aus dem Häuschen waren, wie praktisch all die bunten neuen Sachen aus Plastik waren, wurden wir wegen unserer "Jute-statt-Plastik"-Haltung oder unserer "Atomkraft-nein-danke"-Aufkleber für Zukunftsverweigerer gehalten.

    Damals wurden die Gegner von Atomkraft als "Zukunftsverweigerer" beschimpft. Das Bild zeigt eine Demonstration vor dem Kernkraftwerk Grafenrheinfeld am 16.03.1975.
    Damals wurden die Gegner von Atomkraft als "Zukunftsverweigerer" beschimpft. Das Bild zeigt eine Demonstration vor dem Kernkraftwerk Grafenrheinfeld am 16.03.1975. Foto: Wilhelm Hohenaus

    Während die 68er die große politische Bühne prägten, waren es wir jüngere Boomer, die im Alltag zäh gegen all die Spießigkeiten ankämpften, die sich hartnäckig hielten. Tatsächlich wurden Jungs mit langen Haaren damals noch als "Mädchen" verspottet, und es gab Anlässe, zu denen erwartet wurde, dass man eine "Stoffhose" trug anstatt Jeans.

    Wir schreiben selbst Whatsapp-Nachrichten mit ordentlicher Anrede

    Wir fuhren nicht Fahrrad, um ein ökologisches Statement abzugeben, sondern, weil wir sonst nirgends hingekommen wären. Wir "feierten" nicht jedes Wochenende in Clubs, sondern dann, wenn es etwas zu feiern gab. Wir fanden uns mit Landkarten und Stadtplänen zurecht und schauten oft im Lexikon nach. Heute versehen wir selbst Whatsapp-Nachrichten mit ordentlicher Anrede und korrekter Orthografie und halten uns von Emojis lieber fern, seit wir begriffen haben, dass etwa das Versenden einer Aubergine missverstanden werden kann.

    Ich finde, liebe Mitboomer, dafür brauchen wir uns nicht zu schämen. Immerhin sind wir vielleicht die letzten, die noch eines der großen Vergnügen des Kommunikationszeitalters genießen durften: Den Telefonhörer mit voller Wucht auf die Gabel zu pfeffern. Das sollen die Jungen ruhig mal mit einer nervigen Sprachnachricht probieren.

    Mit vorsintflutlichen Grüßen, Mathias Wiedemann Redakteur und Boomer

    Persönliche Post: der SamstagsbriefJedes Wochenende lesen Sie unseren "Samstagsbrief". Was das ist? Ein offener Brief, den eine Redakteurin oder ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Person des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An jemanden, dem wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur.Persönlich, direkt und pointiert formuliert soll der "Samstagsbrief" sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der "Samstagsbrief" ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir von der Adressatin oder dem Adressaten Post zurück. Die Antwort finden Sie dann bei allen "Samstagsbriefen" hier. Und vielleicht bietet sie auch Anlass für weitere Berichterstattung.MP

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