Sehr geehrter Herr Mülln,
wer Tiere mag, muss Ihnen Danke sagen. Mit Ihrem Verein "Soko Tierschutz" haben Sie gerade massive Tierquälerei in zwei Schlachtbetrieben in Unterfranken publik gemacht. Und dafür gesorgt, dass beide nach Razzien sofort geschlossen worden sind.
"Ich mag Tiere. Einige am liebsten vom Grill", hat unser Reporterchef hier vor zwei Wochen erst an die Tierschutzorganisation Peta geschrieben. Provokanter Einstieg mit voller Absicht, weil es um das Geschäft mit der Provokation ging, um permanente reflexhafte Forderungen, schrille öffentlichkeitswirksame Aktionen unter dem Label Tierrechte.
Mit Ihrer Soko Tierschutz, Herr Mülln, setzen Sie auch auf "effektive Medienarbeit" und Kampagnen. Aber vor allem recherchieren Sie. Decken auf – und machen mit Ihrem Verein die Arbeit, die andere nicht machen.
Videos der Tierschützer aus dem Schlachthof: Die grausamen Szenen sind kaum zu ertragen
Wie jetzt, in den aktuellen Fällen in Unterfranken. Die Videoaufnahmen aus dem Schlachthof Aschaffenburg, die Sie der Presse und den Behörden weitergegeben habe, sind kaum zu ertragen.
30 Minuten Grausamkeit. Mitarbeiter, die Kühe bei Bewusstsein aufschlitzen. Tiere, die mit Dutzenden Stromstößen gequält werden. Ein Arbeiter, der einer Kuh gegen die Schnauze tritt, ihr dann dreimal in den Kopf schießt. Das Tier verdreht die Augen, wird geschlagen und erlebt sein Verbluten. Schweinen, die nicht ausreichend betäubt sind, werden die Augen herausgerissen.
Bei den Szenen aus einer Hinterhof-Schlachterei bei Miltenberg, die Sie keine Woche später publik gemacht haben, muss man mindestens so starke Nerven haben. Offensichtlich kranke, verletzte und sterbende Milchkühe und Fleischrinder (die gar nicht geschlachtet werden dürften!) werden grausam traktiert. Ein Bolzengerät versagt, Rinder wehren sich mit aufgeschnittener Kehle noch und versuchen verzweifelt zu brüllen.
Jetzt sind die beiden Schlachtbetriebe vorläufig geschlossen, die Staatsanwaltschaften ermitteln.
Verdacht und Vorwürfe wiegen schwer: Amtstierärztinnen warnten offenbar vor Kontrollen
Herr Mülln, Sie sprechen von "Kontrollversagen" mehrerer Instanzen. Veterinäre seien nicht bei der Lebendtierbeschau gewesen. Der privatisierte, verpachtete Schlachthof Aschaffenburg sei von Amtsseite vorgewarnt worden, wenn eine Kontrolle anstand.
Dieser Verdacht ist das besonders Brutale an diesem Fall: Zwei Veterinärinnen der Stadt warnen die Schlachtmannschaft, damit die ihre illegalen, grausamen Praktiken rechtzeitig unterbrechen kann. Kaum waren die Undercover-Videos Ihrer Soko bekannt, wurde den Amtsärztinnen fristlos gekündigt.
Verdeckte Recherchen in den Schlachtbetrieben: Gerechtfertigt und nötig oder kriminell?
Sehr geehrter Herr Mülln, Ihnen und anderen Tierschützern werden die illegalen Aktionen, eigenmächtige "Ermittlungen" in Ställen oder Schlachtbetrieben, die heimlichen Aufzeichnungen immer wieder vorgehalten. Sie selbst standen mehrfach vor Gericht nach Anzeigen und Strafbefehlen. Und manche halten Soko Tierschutz selbst für kriminell und eine verbrecherische Organisation.

Aber was ohne die versteckten Kameras? Grundsätzlich seien solche heimlichen Aufnahmen nur zulässig, wenn zuvor die offiziellen Kontrollorgane versagt hätten, sagten Sie in der BR-Abendschau. Ihr Verein agiere immer nur nach dem Prinzip des "rechtfertigenden Notstands". Und in den meisten Fällen seien es Leute aus der Branche, die sich bei Ihnen, dem Veganer, melden würden. "Gestandene Metzger", die die Zustände nicht mehr ertragen. Die sich erst an die Behörden gewendet hätten und dann sehen: Es passiert nix.
Lob für die zentrale Kontrollbehörde - deren Arbeit sinnlos wird durch grundlegende Systemfehler
Würden die Zuständigen ihren Job machen, müsste der Staat einen Schlachtbetrieb nach dem anderen schließen, sagen Sie. Und – bemerkenswert! - haben nach den zwei Skandalen am Untermain die Arbeit der bayerischen Kontrollbehörde für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen, kurz KBLV, gelobt. Die Zentralbehörde, nach dem großen niederbayerischen Salmonellen-Eier-Skandal 2018 eingerichtet, hätte "sehr gut und sehr schnell reagiert".
Der Irrwitz und Systemfehler, der die Arbeit der Kontrolleure und Aufklärer quasi sinnlos macht: Das bayerische Gesetz schreibt vor, dass die KBLV ihre Kontrollen bei den örtlichen Behörden anmelden muss. Wenn dann aus dem Amt der Termin an die Tierquäler durchgesteckt wird... Ausgerechnet das Vorzeigeland Bayern, das sich der Bekämpfung von Kriminalität rühmt, ist bei der Veterinärkontrolle nicht konsequent?
Forderungen der Soko Tierschutz: Vier-Augen-Prinzip, unangemeldete Kontrollen, Bodycams für Veterinärpersonal
Herr Mülln, was Sie fordern, klingt nicht provokant. Sondern nur konsequent.
Personelle Konsequenzen in der Chefetage der Veterinärämter, wenn Aufsichtspflicht versagt. Sofortige Entbindung der KBLV-Leute von der Pflicht, sich vor Kontrollen bei örtlichen Behörden anzumelden. Immer zwei Tierärzte bei den Schlachthofkontrollen. Bodycams für Veterinärpersonal. Eine Videoüberwachung in Betrieben, die nicht dem Schlachthof, sondern der KBLV untersteht. Und eine sofortige, rechtlich verbindliche Zertifizierung und Prüfpflicht für Betäubungsgeräte.

Wie hält man aus, was Sie tun? Missstände aufzudecken, das sei eigentlich nicht Ihr Job, sagen Sie. Lieber Herr Mülln, solange es solch Missstände wie offensichtlich im großen Aschaffenburger Schlachthof, in der kleinen Dorfschlachterei bei Miltenberg gibt . . . Und solange die, die ihre Aufgabe richtig und konsequent machen, durch Fehlkonstruktionen im System ausgebremst werden, gilt nur:
Danke. Und das sollten alle sagen. Auch und besonders die, die manchmal ein Stück Fleisch auf den Grill legen.
Mit Respekt und besten Grüßen,
Alice Natter, Redakteurin
Persönliche Post: Der "Samstagsbrief"Jedes Wochenende lesen Sie unseren "Samstagsbrief". Was das ist? Ein offener Brief, den eine Redakteurin oder ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Person des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An jemanden, dem wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert soll der "Samstagsbrief" sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der "Samstagsbrief" ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir von der Adressatin oder dem Adressaten Post zurück. Die Antwort finden Sie dann bei allen "Samstagsbriefen" hier. Und vielleicht bietet sie auch Anlass für weitere Berichterstattung.MP