Sehr geehrte Frau Dittmar,
als Ärztin und Politikerin kannte man Sie als mahnende Stimme in der Debatte um Corona-Beschränkungen - und das nicht erst, seit Sie als Parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium Regierungsverantwortung in Berlin mittragen. Ähnliches gilt für Ihren Minister und SPD-Parteifreund Karl Lauterbach. Umso überraschter war die Öffentlichkeit, als jetzt ausgerechnet Sie sich für ein Ende strenger Corona-Regeln starkmachten. Kein 2G mehr beim Zugang zu Kultur und Sport, kein 3G mehr in der Gastronomie, keine Homeoffice- und Testpflicht mehr am Arbeitsplatz: Warum haben Sie Ihre Positionen aufgegeben?

Reden wir nicht drum rum: Sie haben "Team Vorsicht" den Rücken gekehrt, weil es für eine restriktive Corona-Politik in der Ampel-Koalition keine Mehrheit gibt. Der Druck der FDP war zu groß, da haben sich SPD und Grüne über den Tisch ziehen lassen. Nach dem Freiheitsverständnis der Liberalen ist jetzt der Punkt erreicht, an dem eine jede und ein jeder selbst entscheiden soll, ob und inwieweit er sich vor einer Ansteckung mit Covid-19 schützen möchte.
Gehört Corona zum allgemeinen Lebensrisiko?
Bei allem Respekt: Solche individuellen Entscheidungen haben Auswirkungen auf die Freiheit von anderen. Ein einzelner, der infiziert und ungeschützt ist, reicht aus, um viele andere anzustecken. Muss man das so hinnehmen in einer freiheitlichen Gesellschaft? Gehört das zum allgemeinen Lebensrisiko, solange die meisten Krankheitsverläufe nicht wirklich lebensbedrohlich und die Krankenhäuser nicht überlastet sind? Ich habe da keine klare Antwort.

Zuletzt war ich selbst zwei Wochen lang Corona-positiv. Zumindest vier, fünf Tage nervten mich mittelschwere Symptome: starke Kopf- und Halsschmerzen, Geschmacksverlust, Schüttelfrost und Schwindel. Ich will nicht groß jammern, vielen anderen ging und geht es mit Corona schlechter. Ich bin dreimal geimpft, da fühlte ich mich vor einem schlimmeren Verlauf doch sicher. Nachdenklich gestimmt hat mich die Erfahrung gleichwohl: Man sollte es lieber nicht auf eine Ansteckung anlegen, Vorsicht ist nach wie vor geboten.
Ärztinnen und Ärzte warnen vor Lockerungen
So, liebe Frau Dittmar, argumentiert auch die große Mehrheit Ihrer Ärzte-Kolleginnen und -Kollegen. Sie verweisen auf die aktuellen Ansteckungszahlen, die schon offiziell so hoch sind wie nie zuvor, von der vermuteten Dunkelziffer gar nicht zu reden. Und auch die Krankenhäuser leiden massiv unter immer mehr Corona-Krankheitsfällen, auch wenn die Lage auf den Intensivstationen derzeit - anders als vor Weihnachten - beherrschbar scheint.
Die Signale aber, die die Politik mit der jüngsten Änderung des Infektionsschutzgesetzes sendet, sind andere. Das klingt schon sehr nach Freedom-Day, auch wenn Lauterbach und Sie nicht müde werden, darauf hinzuweisen, die Bundesländer könnten ja, wenn sie wollen, sogenannte Hotspots definieren und dort dann auch nach dem 2. April, wenn die Übergangsfristen für viele Beschränkungen auslaufen, neue Regeln aufstellen oder bestehende verlängern. Dass das nicht nur sehr bürokratisch klingt, sagt beileibe nicht nur die bayerische CSU-Staatsregierung, das sagen auch Ministerpräsidentinnen und -präsidenten von der SPD.
Noch immer sind viele Über-60-Jährige ungeimpft
Immer wieder heißt es, die Erfahrungen - beispielsweise in Dänemark und Großbritannien - zeigten doch, dass das Gesundheitswesen trotz der Omikron-Welle nicht zusammenbricht, wenn alle Beschränkungen wegfallen. Dabei wird häufig aber verschwiegen, dass in diesen Ländern die Impfquoten deutlich höher sind, vor allem auch bei den Über-60-Jährigen. Gerade für Ungeimpfte dieser Altersgruppe ist die Gefahr eines schweren Verlaufs bei einer Corona-Infektion hoch.

Will die Politik also der Gesellschaft künftig alle Corona-Auflagen ersparen, dann braucht es eine allgemeine Impfpflicht - zumindest für die Älteren. Auch hier drohen dem "Team Vorsicht" in Berlin, mit Karl Lauterbach und Ihnen an der Spitze, die Felle davonzuschwimmen. Jetzt, wo die ganz schweren Krankheitsverläufe weniger werden und es auch gar nicht mehr so wichtig scheint, ob selbst bei einer Infektion die (Quarantäne-)Regeln auch wirklich eingehalten werden, ist es schwierig geworden, an dieser Absicht festzuhalten.
Dabei warnen die meisten Expertinnen und Experten schon vor der nächsten Corona-Welle und vor neuen, unberechenbaren Virusvarianten. Noch steht die Mehrheit der Bevölkerung bei der Impfpflicht hinter Ihnen. Bleiben Sie also hartnäckig, lassen Sie sich nicht erneut über den Tisch ziehen!
Beste Grüße aus Würzburg
Michael Czygan, Redakteur
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