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Würzburg/Berlin: Samstagsbrief: Frau Friedländer, Ihr Einsatz als Holocaust-Überlebende muss uns Vorbild im Kampf gegen Judenhass sein

Würzburg/Berlin

Samstagsbrief: Frau Friedländer, Ihr Einsatz als Holocaust-Überlebende muss uns Vorbild im Kampf gegen Judenhass sein

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    Margot Fiedländer am Donnerstag bei der Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Pogromnacht in der Synagoge Beth Zion in Berlin. Hier wird sie von der Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey begrüßt.
    Margot Fiedländer am Donnerstag bei der Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Pogromnacht in der Synagoge Beth Zion in Berlin. Hier wird sie von der Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey begrüßt. Foto: John Macdougall, dpa

    Sehr geehrte Frau Friedländer,

    nachträglich herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 102. Geburtstag in dieser Woche. Schön, Sie am Donnerstag während der Gedenkstunde an die Pogromnacht 1938 auf der Besuchertribüne des Bundestags so rüstig zu sehen. 

    Dass Ihnen als Holocaust-Überlebende vermutlich nicht nach Geburtstag feiern war, dürfte zum einen an den Nachrichten und Bildern vom Terror gegen Jüdinnen und Juden in Israel liegen. Zum anderen an den Nachrichten und Bildern von antisemitischen Übergriffen in bislang so nicht gekannter Brutalität und Zahl mitten in Deutschland.

    Judenhass erinnert an die 1930er Jahre

    Auf den Straßen wird der Mord an Jüdinnen und Juden in Israel offen bejubelt. Längst nicht nur in Berlin, was schlimm genug wäre, auch bei uns in Bayern werden Scheiben von jüdischen Geschäften eingeschlagen, werden Häuser, in denen jüdische Menschen leben, mit antisemitischer Symbolik und üblen Parolen beschmiert.

    Junge Jüdinnen und Juden trauen sich nicht mehr in die Schule, jüdische Studierende nicht mehr allein auf die Uni-Toilette. Und mitten in unseren Städten werden Menschen beschimpft und bespuckt, die bei Starbucks Kaffee trinken - weil das Unternehmen einen jüdischen Besitzer hat. Auch wenn man hierzulande mit Nazi-Vergleichen vorsichtig sein sollte: Dies erinnert dann doch heftig an die 1930er Jahre, an die Aufrufe "Kauft nicht bei Juden".

    Mich überkommt angesichts solcher Nachrichten Scham. Gleichzeitig mag ich mir gar nicht ausmalen, wie sehr diese Bilder Sie, liebe Frau Friedländer, aufwühlen, ja aufwühlen müssen.

    Als junge Frau in Berlin haben Sie den menschenverachtenden Judenhass am eigenen Leib gespürt. Und schließlich erleben müssen, wie Ihr Bruder im Januar 1943 von der Gestapo abgeholt wurde – und Ihre Mutter entschied, ihn zu begleiten. "Versuche, Dein Leben zu machen", das war die Botschaft, die sie Ihnen zusammen mit ihrer Bernsteinkette zurückließ. Sie haben sich nie mehr wiedergesehen. Ihre ganze Familie wurde im Holocaust ermordet.

    Margot Friedländer war am Donnerstag Ehrengast im Bundestag. Auf der Ehrentribüne sitzt die 102-Jährige zwischen (von links) Karsten Dreinhöfer, Vorstand der Margot-Friedländer-Stiftung, Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Ron Prosor, israelischer Botschafter in Deutschland.
    Margot Friedländer war am Donnerstag Ehrengast im Bundestag. Auf der Ehrentribüne sitzt die 102-Jährige zwischen (von links) Karsten Dreinhöfer, Vorstand der Margot-Friedländer-Stiftung, Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Ron Prosor, israelischer Botschafter in Deutschland. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    Sie selbst konnten in Berlin dank der Hilfe mutiger Menschen zunächst untertauchen, bis man Sie schließlich im April 1944 doch an die Gestapo verraten und nach Theresienstadt deportiert hat. Gemeinsam mit Ihrem späteren Mann überlebten Sie das Konzentrationslager, 1946 wanderten Sie  nach New York aus.

    Nach über 50 Jahren kehrte Margot Friedländer in die Heimat zurück

    Über fünfzig Jahre später, nach dem Tod Ihres Mannes 1997, begannen Sie, liebe Frau Friedländer, Ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Für einen Dokumentarfilm kehrten Sie schließlich wieder nach Berlin zurück, mehrere Besuche folgten. Seit 2010 leben Sie wieder in Ihrer Heimatstadt. Mittlerweile sind Sie nicht nur mehrfach für Ihre Erinnerungsarbeit von der Bundesrepublik ausgezeichnet worden, sondern auch wieder deutsche Staatsbürgerin.

    Regelmäßig besuchen Sie Schulen, um jungen Leuten aus Ihrem Leben zu erzählen. Die Authentizität, mit der Sie den Horror der Nazi-Zeit lebendig machen, die kann kein Geschichtsbuch, kein Film und kein Gedenkstätten-Besuch ersetzen. Ihre Botschaft dabei ist ein Appell an die Menschlichkeit: "Ihr braucht andere Menschen nicht zu lieben. Aber Respekt vor anderen ist unverzichtbar."

    Was aber läuft schief in diesem Land, dass Menschen jüdischer Herkunft nicht mehr sicher sein können, dass sich der Hass dieser Tage so breit machen kann? Ist die Versicherung "Nie wieder", die an Gedenktagen wie dem 9. November so routiniert wiederholt wird, nur eine Phrase?

    Unser Rechtsstaat ist gefordert, es gibt keine Entschuldigung

    Ich mag es nicht glauben. Aber wir müssen der bitteren Wahrheit ins Gesicht sehen: Das bisherige bildungspolitische Engagement reicht nicht aus, um Menschen, egal welcher Herkunft, ihren Antisemitismus, ihren Rassismus, ihre Menschenfeindlichkeit auszutreiben. Neben Lehrerinnen, Lehrern und unseren Bildungseinrichtungen ist der Rechtsstaat gefordert, auch schon verbalen Angriffen gegen die Menschlichkeit mit aller Härte zu begegnen. Da darf es keine Entschuldigung geben, da gilt kein "Ja, aber…"

    Und es braucht uns alle. Es bedarf keiner großen Zivilcourage, einzuschreiten, wenn dumme Witze die Runde machen, wann immer Antisemitismus relativiert wird. Lasst uns den Jüdinnen und Juden gemeinsam zeigen, sie gehören zu uns.

    Ihr Leben, Ihr Lebenswerk, liebe Margot Friedländer, das kürzlich erst in einem sehenswerten Dokudrama vom ZDF verfilmt wurde, sollte uns Beispiel sein. Es zeigt, wohin der Hass führt, aber auch, wie er motivieren kann, für Versöhnung, für ein menschliches Miteinander zu streiten.

    Machen Sie weiter so und bleiben Sie vor allem gesund.

    Herzliche Grüße aus Würzburg

    Michael Czygan, Redakteur

    Persönliche Post: der SamstagsbriefJedes Wochenende lesen Sie unseren "Samstagsbrief". Was das ist? Ein offener Brief, den eine Redakteurin oder ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Person des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An jemanden, dem wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert soll der "Samstagsbrief" sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der "Samstagsbrief" ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir von der Adressatin oder dem Adressaten Post zurück. Die Antwort finden Sie dann bei allen "Samstagsbriefen" hier. Und vielleicht bietet sie auch Anlass für weitere Berichterstattung.

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