Sehr geehrter Herr Infantino,
im Sommer 1990 war ich acht Jahre alt und in Italien fand die erste Weltmeisterschaft statt, die ich bewusst miterlebt habe. Ich erinnere mich an meinen Vater, der vor Turnierstart extra einen neuen Fernseher angeschafft hat. An Fußballabende in der Familie, an denen wir Kinder länger aufbleiben durften. An den Solo-Lauf von Lothar Matthäus im Auftaktspiel der Deutschen gegen Jugoslawien und das anschließende 3:1. An die Spuck-Attacke des Holländers Frank Rijkaard gegen Rudi Völler. An meine Mutter, die den Elfmeter-Krimi im Halbfinale Deutschland gegen England nicht mit ansehen konnte und auf den Balkon verschwand . . .
In den Würzburger Hinterhöfen, wo wir Nachbarsjungs auf Asphalt kickten, wurden wir zu Matthäus oder Völler, zum italienischen Torjäger Totó Schillaci oder dem kamerunischen Eckfahnen-Tänzer Roger Milla. Der WM-Spielplan aus der Main-Post, in den mein Vater fein-säuberlich die Ergebnisse eingetragen hat, hängt inzwischen hinter Glas in meinem Büro.

Auch wenn "Italia 90" wie kein anderes Turnier meine Liebe zum Fußball geprägt hat: WM-Wochen waren immer eine besondere Zeit. Beim Turnier 1998 in Frankreich litt ich wegen des - nach 1994 in den USA - erneut frühen Ausscheidens Deutschlands und war fußballverliebt in die französischen Weltmeister Bixente Lizarazu und Thierry Henry.
Als 2002 die WM in Japan und Südkorea stattfand, schaute ich das Finale Deutschland gegen Brasilien mit Freunden wegen der Zeitverschiebung in der Mittagssonne. Wir trugen Oliver-Kahn-Masken, die man aus einer Zeitung ausschneiden konnte.
Keine echte WM
Zur Heim-WM 2006 tauschten wir wieder wie die Kinder Panini-Bilder und räumten beim Vater eines Freundes die Firmenhalle aus, um dort die Spiele auf Leinwand zu schauen. 2010 spielten wir das Südafrika-Turnier in unserer WG auf der Playstation nach. Und als bei der WM 2014 in Brasilien in der Vorrunde England auf Italien traf - mitteleuropäische Anstoßzeit: 0 Uhr - schlug ich mir die Nacht um die Ohren. Es herrschte ein Flair, fast wie damals 1990. Gekrönt vom deutschen Final-Sieg im Fußballtempel von Maracanã, den wir beim Public Viewing verfolgten und danach in biernassen Klamotten feierten. Ja, als Mario Götze traf, kippten einige Gläser.
So viele Emotionen! So viel Leidenschaft. Und jetzt?
Nichts.
Herr Infantino, kurz bevor die WM in Katar angepfiffen wird, ist mein Fußball-Herz leer. Keine Vorfreude, kein Spielplan-Studium, keine Tipp-Spiel-Organisation. Die französische Fußball-Legende Eric Cantona sagte vor einiger Zeit schon, dieses Turnier in der Wüste sei für ihn "keine echte WM". Mir geht es genauso.
Enttäuschender Besuch in Katar
Schon 2018 hatte ich Probleme mit Russland als Gastgeber, das 2014 die Krim völkerrechtswidrig annektiert hatte und ebenfalls in Verdacht steht, bei der WM-Vergabe nachgeholfen zu haben. Was an der Katar-WM schlimmer ist? Die Dreistigkeit, mit der Gastgeber und Fifa blenden, manipulieren und schönreden.
Ende 2019 habe ich Katar besucht. Ein Tourismusunternehmen hatte Journalistinnen und Journalisten eingeladen und wollte den Wüstenstaat drei Jahre vor der WM als attraktives Reiseziel für Fußball-Fans präsentieren. Doch die Enttäuschung war groß: Eine Besichtigung bereits fertiggestellter Stadien wurde "aus organisatorischen Gründen" vom WM-Organisationskomitee Katars kurzfristig abgesagt. Kritische Fragen wurden beim Gespräch mit Fifa-Mitarbeitern in Doha mit "Märchen aus 1001 Nacht" beantwortet oder abgebügelt: Man müsse sich eben auf die "andere Kultur" einlassen.
Anschließend wurden wir durch eine Ausstellung geführt, in der Katar seine nicht existierende Fußballhistorie inszenierte. Ein Kurzfilm mit dem Titel "Workers' Welfare" (zu deutsch: "Wohlergehen der Arbeiter") thematisierte nicht etwa die viel kritisierten Arbeitsbedingungen vor Ort, sondern zeigte in schillernden Farben ein Fußballturnier unter Gastarbeitern.
Verkommen und mittelalterlich
Auf dem Rückflug hatte niemand WM-Fieber. Zu durchsichtig war die Fassade, die mit viel Pomp zusammengezimmert worden war. Katar, die Vergabe des Turniers – alles erschien nur noch verdächtiger. Die Enthüllungen, die seitdem ans Licht kamen, lassen keinen Zweifel mehr, dass das Weltbild der katarischen Staatsführung mittelalterlich und die Fifa inzwischen völlig verkommen ist.
Sie persönlich und Ihr Weltverband, Herr Infantino, machen den Fußball zur Geldmaschine – und kaputt. Ich stelle mir die Frage, wie lange Spieler und Nationalverbände buchstäblich noch mitspielen. Würde die Fifa aufwachen, wenn bei der nächsten WM Deutschland, Brasilien oder Frankreich einfach mal nicht mitkicken würden?
1990 sang Gianna Nannini in ihrem WM-Song von "notti magiche" – magischen Nächten. Die WM 2022 dagegen ist ein Alptraum.
Mit freundlichen Grüßen
Benjamin Stahl, Redakteur