Guten Tag, Herr Lindemann.
Klingt eigentlich ganz harmlos, die Anrede, nicht wahr? Ich fand immer schon, dass da ein seltsames Ungleichgewicht ist zwischen Ihrem Namen, der mich jedes Mal wieder an den leicht verwirrten Lottogewinner bei Loriot erinnert, und der martialischen Kunstfigur, die Sie als Frontmann von Rammstein auf der Bühne verkörpern.
Was natürlich Quatsch ist, niemand kann etwas für seinen oder ihren Namen, und unter Journalisten gibt es deshalb die eiserne Regel, dass Witze über oder Wortspiele mit Namen Tabu sind. Aber in Ihrem Fall erlaube ich mir, mal ein Tabu zu brechen, auch wenn das ja eigentlich Ihr Spezialgebiet ist: Tabus brechen. Provozieren. Um uns mit drastischen Mitteln unsere eigenen Abgründe vorzuführen.

Oder, wie die Zeitschrift "Cicero" 2015 lobte: Sie bringen "Licht in die dunkelsten Niederungen der menschlichen Psyche". Der Autor Thomas Winkler spürte damals einen "humanistischen Humor" in ihren Reimen auf und attestierte: "Lindemann ist ein Menschenfreund, dem nichts Menschliches fremd ist." Vielleicht war das aber auch ironisch gemeint, man kann in Ihrem Fall mit Deutungsversuchen ganz schnell auf den Holzweg geraten.
Seit Jahren rümpft das Feuilleton die Nase über die, die keine Lust haben, diese Maskerade mitzumachen
Es gibt regelrechte Rammstein- und Lindemann-Versteher-Anleitungen, in denen zum Beispiel minutiös hergeleitet wird, dass manche Ihrer Texte von klassischer deutscher Literatur von Goethe bis Brecht inspiriert sind. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch (kiwi) sind zwei Gedichtbände von Ihnen erschienen, herausgegeben von Alexander Gorkow, einem der Kulturchefs der "Süddeutschen Zeitung". Soll heißen: Hinter der Fassade aus Leder, Altöl und Pulverdampf steckt mehr als das Auge wahrnimmt.
Seit vielen Jahren schon rümpft das Feuilleton deshalb die Nase über all die, die keine Lust haben, diese Maskerade mitzumachen. Die dieses aufmerksamkeitssüchtige Spiel (wenn es denn eines ist) mit NS-ähnlicher Ästhetik, kruden Texten ("Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr"), dem bösen RRRRollen des R, der Zurschaustellung schwitzig-wuchtiger Männlichkeit, kurz: die die "schwarzbrotkrustige Deutschtümelei" (ebenfalls "Süddeutsche Zeitung") pubertär oder einfach ermüdend finden.

Dass man Ihre überzogene Darstellung deutscher Stereotypen in beide Richtungen verstehen kann - als Karikatur wie als Kult -, ist im übrigen auch ziemlich gut fürs Geschäft. Rammstein gilt derzeit - noch - als Deutschlands erfolgreichstes künstlerisches Exportgut.
So, und jetzt kommt der schwierige Teil. Denn es sieht aus, als sei es mit der vielbeschworenen Trennung zwischen dem Autor/Künstler Lindemann und seinem "lyrischen Ich" nicht allzu weit her. Ihr Verlag kiwi ist gar der Ansicht, Sie hätten diese Trennung "verhöhnt", und hat Ihnen deshalb die Zusammenarbeit aufgekündigt.
Nun dürften auch die virtuosesten Lindemann-Exegeten das Gedicht "Wenn du schläfst" anders lesen als zuvor
Hintergrund ist ein bereits 2020 herausgekommenes Porno-Video, in dem Sie angeblich Gewalt gegen Frauen zelebrieren. Vor allem aber wird die öffentliche Diskussion dieser Tage von einer ständig wachsenden Menge an Vorwürfen bestimmt, Sie, Herr Lindemann, hätten sich während und nach ihren Shows über eine Art Casting-System junge Frauen für zum Teil übergriffigen Sex zuführen lassen. Es steht auch im Raum, einige dieser Frauen seien unter Drogen gesetzt worden.
Sie, Herr Lindemann, haben soeben unter Androhung rechtlicher Konsequenzen alle Vorwürfe anwaltlich zurückweisen lassen, aber das System "Provokation = ironische Brechung = Kunst" hat dennoch einige Kratzer abbekommen. Nun dürften auch die virtuosesten Lindemann-Exegeten das Gedicht "Wenn du schläfst" anders lesen als zuvor: "Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas) / Kannst dich gar nicht mehr bewegen / Und du schläfst / Es ist ein Segen."
Mich würde interessieren, Herr Lindemann, ob es einen Punkt gab, an dem Sie feststellten: Ich bin jetzt ein Superstar, ich komme mit allem durch. Und ob es einen Punkt gab, bis zu dem Sie so etwas wie Unrechtsbewusstsein kannten. Das milliardenschwere System des Starkults, das auf bedingungslose Verehrung überdimensionaler Gestalten des Lichts oder – in Ihrem Fall – der Finsternis setzt, macht es den derart Verehrten offensichtlich schwer, das eigene Ego in menschlichen Dimensionen zu halten.
Vielleicht wäre es ganz gut gewesen, hätten mehr Leute nicht erst 2020, als "Wenn du schläfst" herauskam, so klare Worte gefunden wie Julia Maria Grass in der "Berliner Zeitung": "Das ist sexistischer Dreck. Und der bleibt sexistischer Dreck, auch wenn er sich reimt."
Mit distanziertem Gruß,
Mathias Wiedemann
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