Sehr geehrter Herr Schuster, ich kann Ihren Ärger sehr gut verstehen. Und ich könnte auch sehr gut verstehen, wenn sich in diesen Ärger Wut, Verzweiflung und Erschöpfung mischen würden. Was dieser Tage auf der Documenta in Kassel passiert, muss in Ihnen als Vorsitzendem des Zentralrats der Juden in Deutschland ein Gefühl der Vergeblichkeit und des Rückschlags auslösen.

Nach all den Jahrzehnten der Aufklärung, des Dialogs, der Warnungen und der Kritik, nach all den Initiativen, jüdisches Leben und jüdische Kultur zu erklären, nach all der harten Arbeit, alte und neue Vorurteile zu widerlegen, feiern nun ausgerechnet auf der weltweit wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst judenfeindliche Klischees grausige Urständ. Wäre man zynisch, würde man sagen, das liegt im allgemeinen Trend, aber ein Trost ist das natürlich nicht. Im Gegenteil.
Dass die Bildsprache antisemitisch ist, leugnet niemand
Das krasseste Documenta-Beispiel unter einigen: Auf einem riesigen – inzwischen abgehängten – Wimmelbild des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit dem Titel "People's Justice" (Volksgerechtigkeit) ist ein Soldat mit Schweinegesicht, Davidstern und der Aufschrift "Mossad" auf dem Helm zu sehen. An anderer Stelle des Bildes eine Figur mit Raffzähnen, blutunterlaufenen Augen, Hakennase, Schläfenlocken, Kippa und einem Hut mit "SS"-Runen.

Immerhin: Dass diese Bildsprache antisemitisch ist, leugnet niemand. Das machen auch Hinweise auf die Kunstfreiheit ("Eine freie Welt muss das ertragen", so der – inzwischen zurückgetretene – Vorsitzende des Fördervereins Documenta-Forum) oder den historischen Kontext nicht besser. Das Bild ist 20 Jahre alt und bezieht sich auf die Suharto-Diktatur in Indonesien 1967 bis 1998. Die Künstlergruppe leugnet jede antisemitische Absicht und fühlt sich missverstanden: "Das Werk wird nun zu einem Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs." Fragt sich nur, welche Art von Dialog das hätte werden sollen.
Inzwischen hat sich das indonesische Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa, das für die Werkauswahl zuständig war, entschuldigt: "Wir haben alle darin versagt, in dem Werk die antisemitischen Figuren zu entdecken", heißt es auf der Homepage der Documenta.

Monatelang hatte es Warnungen vor antisemitischen Tendenzen bei Ruangrupa gegeben. Auch anderen an der Documenta beteiligten Künstlern und Aktivisten wurde Nähe zur antiisraelischen Boykott-Bewegung BDS nachgesagt, die der Bundestag 2019 als antisemitisch verurteilt hat.
Jetzt sind (fast) alle entsetzt, aber niemand hat es kommen sehen
Jetzt sind (fast) alle entsetzt, aber niemand hat es kommen sehen. Die Generaldirektorin der Documenta, Sabine Schormann, merkt an, es sei nicht ihre Aufgabe, Kunst zu kontrollieren oder gar zu zensieren. Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Vertreterin des wichtigen Geldgebers Bund, hatte noch vor zwei Wochen gesagt: "Ich werde nicht als Kulturpolizistin den Daumen heben oder senken." Alles richtig, vom Ergebnis her aber doch falsch.
Elke Buhr, Chefredakteurin des Kunstmagazins "Monopol", nannte gar die Eröffnungsrede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen "Skandal", weil dieser kritisiert hatte, dass auf der Ausstellung keine jüdischen Künstlerinnen und Künstler aus Israel vertreten seien. "Ein Boykott Israels kommt einer Existenzverweigerung Israels gleich", hatte der Präsident gesagt. "Nirgendwo auf der Documenta wird das Existenzrecht Israels in Frage gestellt", kommentierte Buhr noch am Eröffnungstag.

Das muss Ihnen doch wie Hohn vorkommen, lieber Herr Schuster. Sie hatten zu den Warnern gehört, was Ihnen unter anderem den indirekten Vorwurf des Rassismus eingebracht hatte. Weil ein Großteil der eingeladenen Künstlerkollektive aus dem sogenannten "globalen Süden" stammen. Sie, Herr Schuster, erwiderten: "Es spielt jedoch keine Rolle, woher Künstler stammen, die Antisemitismus verbreiten. Kunstfreiheit endet dort, wo Menschenfeindlichkeit beginnt. Auf der Documenta wurde diese rote Linie überschritten."
Manche sehen in der Debatte eher eine Art Sport
Das sehen nicht alle so: "Es gibt ja wenig, was man in Deutschland so sehr liebt wie eine gepflegte Antisemitismusdebatte", schreibt Tobias Rapp im "Spiegel", als ginge es um eine Art Sport. Noch unfairer aber ist folgender Effekt: Der Präsident des Zentralrats der Juden muss natürlich judenfeindliche Kunst kritisieren und steht damit in den Augen mancher wieder mal als Vertreter einer Minderheit da, die nur darauf warte, verletzt aufzuheulen.
Das ist das vielleicht Ärgerlichste an dem ganzen Fall: Dass die Kritik an antisemitischen Klischees dazu missbraucht wird, antisemitische Klischees zu bedienen. Wie gesagt, sehr geehrter Herr Schuster, sollten Sie ein Gefühl der Vergeblichkeit und Erschöpfung empfinden, ich könnte es wirklich verstehen. Ich bin dennoch zutiefst davon überzeugt, dass Ihre Arbeit nicht vergeblich ist.
Mit besorgten Grüßen
Mathias Wiedemann, Redakteur
Persönliche Post: der "Samstags brief" Jedes Wochenende lesen Sie unseren "Samstagsbrief". Was das ist? Ein offener Brief, den eine Redakteurin oder ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Person des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An jemanden, dem wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert soll der "Samstagsbrief" sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der "Samstagsbrief" ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir von der Adressatin oder dem Adressaten Post zurück. Die Antwort finden Sie dann bei allen "Samstagsbriefen" hier. Und vielleicht bietet sie auch Anlass für weitere Berichterstattung.