Liebe Frau Gerlinger,
an diesem Samstag werden Sie 105 Jahre alt. Zu Ihrem Geburtstag möchte ich Ihnen herzlich gratulieren. Ich nehme ihn auch zum Anlass, um Ihnen zu danken: für unsere Begegnung im vergangenen Jahr, bei der Sie mich nachhaltig beeindruckt haben.
Wir haben uns am letzten Septembertag kennengelernt. Ich hatte von einem Zufall der Statistik erfahren, einem Ergebnis des Zensus 2022: Würzburg ist die deutsche Stadt, in der die meisten Menschen im Alter von 100 oder mehr Jahren leben. Aktuell, zu Jahresanfang 2025, sind es laut Einwohnermeldeamt 78 so Hochbetagte. Sie, liebe Frau Gerlinger, sind nun die Älteste!
Ich wollte von Ihnen wissen, warum es sich in Würzburg so gut so alt werden lässt. Durch die Kunstsammlung, die Sie mit Ihrem Mann Hermann Gerlinger hatten, sind Sie bekannt in der Stadt. Sie erklärten sich bereit, mich in Ihrem Zimmer im Seniorenstift des Juliusspitals zu empfangen.

Als Sie mich an jenem Nachmittag freundlich und mit wachem Blick begrüßten, konnte ich nicht glauben, dass Sie schon 104 sind. Und das lag nicht an Äußerlichkeiten wie Ihrem dunklen Pagenkopf oder Ihrer adretten Kleidung. Es lag an Ihrer Präsenz. An Ihrem Charisma. Und an Ihrer Neugierde. Sie strahlten in Ihrem Rollstuhl etwas Vergnügtes aus, und Sie füllten den Raum damit.
Dass Sie mir eine "Gebrauchsanweisung" für unser Gespräch gaben, amüsierte mich - und zeigte Ihren Humor. "Sie müssen laut in mein linkes Ohr sprechen!", forderten Sie mich mit Schalk in den Augen auf. Dann erzählten Sie mir gut zwei Stunden aus Ihrem Leben, das am 4. Januar 1920 in Breslau begonnen hat - in wohl gewählten Worten und einer Sprechmelodie, die noch immer in mir nachklingt.
Nach Vertreibung, Flucht und Verlust und erfülltes Leben gestaltet
Sie erzählten von glücklicher Kindheit mit vier Geschwistern in einer Beamtenfamilie in Schlesien. Von dramatischer Flucht mit Ihrer Mutter und Ihrer eineinhalbjährigen Tochter Ende des Zweiten Weltkrieges. Von schmerzhaftem Verlust Ihrer Heimat, Ihres Bruders und Ihres ersten Ehemannes. Von neuem Anfang in Bayern mit Arbeit auf dem Feld, in einem Krankenhaus und nach einem Sprachenstudium als Übersetzerin. Und von der langen Ehe mit Ihrem zweiten Mann, dem elf Jahre jüngeren Würzburger Unternehmer Hermann Gerlinger. Am 27. Januar steht Ihr 66. Hochzeitstag an.

Zusammen bauten Sie die Sammlung von Malern der expressionistischen "Brücke" auf und aus. Dafür erhielten Sie viel Anerkennung, unter anderem den Bayerischen Verdienstorden. "Meine Mutter hat es verstanden, sich nach Armut, Vertreibung und Entbehrung mit ihrem Mann ein Leben zu kreieren, das ihr Erfüllung brachte", sagt Ihre Tochter Sophie Brandes. Die Liebe zur Kunst, zur Sprache und zur Natur prägten dieses Leben.

Was mich bei unserer Begegnung berührt hat, liebe Frau Gerlinger: Mit welcher Wertschätzung Sie nach so vielen "glücklichen gemeinsamen Jahren" über Ihren "wunderbaren Ehemann" sprachen. Das sei "das Beste", das einem das Leben schenken könne: jemanden zu finden, mit dem man es teilen kann.
Es war Ihre emotionalste Aussage. Das Sentimentale und Pathetische scheinen nicht Ihrem Wesen zu entsprechen. Als ich Sie fragte, was das Leben Sie in mehr als 100 Jahren gelehrt habe, antworteten Sie: "Es ist, wie es ist."
"Meine Mutter war immer ein Vernunftmensch", sagt Ihre Tochter. Vielleicht habe auch das Ihr langes Leben begünstigt. Vor allem aber hätten Sie sich selbst "ein Rezept verordnet, wie man gut alt werden kann". Darüber haben Sie nicht nur in Büchern geschrieben; sie haben auch danach gelebt.
Hertha Gerlingers Rezept zum gut Altwerden: "Dauernd bewegen, dauernd denken, dauernd lernen!"
Mir gegenüber, liebe Frau Gerlinger, haben Sie dieses Geheimnis Ihres langen Lebens so zusammengefasst: "Dauernd bewegen, dauernd denken, dauernd lernen!" Ihre Tochter mutmaßt, dass Ihre körperliche Bewegung - im Garten Ihres Hauses in Würzburg und bei Wanderungen mit der von Ihnen gegründeten Frauengruppe - auch Ihre Beweglichkeit im Geist erhalten hat. Zudem seien Sie gesund geblieben.

Wie Sie infolge der Corona-Pandemie ins Juliusspital kamen, haben Sie mir in einem Ihrer Gedichte vorgetragen. Aufgeschrieben hatten Sie es nicht. Sie zitierten es frei aus dem Kopf.
Auch das hat mich beeindruckt. Vor allem aber Ihre heitere Gelassenheit, die Sie selbst während eines schweren Infekts im Oktober ausstrahlten, als wir uns noch mal kurz sahen. Unwägbarkeiten, Widrigkeiten und Tiefen zu akzeptieren und aus Gegebenheiten und Möglichkeiten ein selbstbestimmtes und gelungenes Leben zu gestalten - das können viele von Ihnen lernen.

Liebe Frau Gerlinger, Ihre Tochter hat mir verraten, dass keine große Feier zu Ihrem Geburtstag geplant ist. Ihr Mann und sie würden am Vormittag mit Ihnen auf Ihr Wohl anstoßen. Am Nachmittag seien Überraschungsbesuche willkommen.
Übrigens: Die älteste Würzburgerin bisher wurde 108. Ich würde mich freuen, Sie noch öfter zu treffen, um über Sie zu berichten.
Erst einmal aber wünsche ich Ihnen alles Gute - an diesem Tag und in Ihrem 106. Lebensjahr!
Herzliche Grüße,
Natalie Greß, Redakteurin
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