Liebe Susanne Daubner, ich fände es echt dufte, wenn Sie am 22. Oktober Dienst hätten als Sprecherin bei der Tagesschau. Denn dann wird das "Jugendwort des Jahres" gekürt. Also das Wort, das junge Menschen – angeblich – gerade besonders knorke finden.
Sie, liebe Frau Daubner, haben nicht nur neulich im Morgenmagazin mit ihrem hinreißenden kleinen Lachanfall – sorry: Lachflash – und einem milde verzweifelten "Och Mann!" Millionen Menschen eine Freude bereitet.
Sie gelten auch seit 2021 als bestmögliche Fachkraft der Tagesschau zur Verkündung des Jugendworts des Jahres. Im Netz kursieren etliche mit Musik unterlegte Remixe Ihrer Ansagen - zumindest in dieser Hinsicht ist das Jugendwort Kult.
Was sollen denn diese Jugendwörter überhaupt bedeuten?
Ich kann nur bewundern, mit welch untadeliger Haltung Sie alljährlich Begriffe vortragen, von denen kein Mensch je gehört hat, von denen oft nicht mal klar ist, wie sie ausgesprochen werden, geschweige denn, was sie überhaupt bedeuten sollen.
Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber irgendwas in Stimme, Betonung, Tonlage, vielleicht ein unmerkliches Zucken der Unterlippe oder das Spiel Ihrer Augenbrauen, liebe Frau Daubner, lässt mich immer wieder aufhorchen.

Denn da ist eine so meisterlich eingestreute, praktisch nicht nachweisbare Prise Humor drin - wunderbar! Und jetzt mal so von Boomer zu Boomer: "Fly sein"? Ich bitte Sie! Oder "Sly", "Siu", "Gommemode" und "Bre"? Wer soll denn diese Wörter überhaupt verwenden? Und in welchen Zusammenhängen?
Ich befrage zu diesem Zweck gelegentlich die Schar meiner Nichten und Neffen, die dann aber nur mit den Augen rollen. Ob meiner Ignoranz oder ob der offensichtlichen Irrelevanz dieser Begriffe, weiß ich nicht. Ich hoffe immer, dass die zweite Erklärung der Grund ist.
Dass auch Angehörige der Generation Gammelfleisch mitstimmen können, wollen wir jetzt mal nicht überbewerten
Aber wer wollte schon das Knowhow des Langenscheidt-Verlags infrage stellen, der sich mit der pfiffigen Aktion einen festen Platz in medialen Jahreslauf erobert hat und überdies neben Wörterbüchern auch jede Menge Jugendwort-Merchandise feilbietet?
Zudem sind es ja seit 2020 die jungen Leute selbst, die die Wörter einreichen und dann darüber abstimmen sollen. Dass auch Leute wie ich, also Angehörige der Generation Gammelfleisch, mitstimmen können, wollen wir jetzt mal nicht überbewerten.
In der Endauswahl zum Jugendwort des Jahres stehen Begriffe wie "side eye, "goofy" oder "NPC"
Die Gesellschaft für deutsche Sprache, so liest man auf Wikipedia, hält die Wahl übrigens immerhin für eine schöne Idee. "Das Ganze ist ein Sprachspiel. Ich würde daraus nicht ableiten, dass die Jugend tatsächlich so spricht", wird ein Sprecher zitiert.
Auch ganz knuffig: Einigen wir uns darauf, dass es das Jugendwort so gar nicht gibt, und schon können wir munter mit rätselhaften Wortschöpfungen um uns werfen, die niemand benutzt. Als Spiel, halt.
In die Endauswahl haben es diesmal, das wissen wir nicht zuletzt von Ihnen, liebe Frau Daubner, die Begriffe "Side eye", "goofy" und "NPC" geschafft. Das klingt verhältnismäßig gediegen. So sind "Side eye" und "goofy" keine Wortschöpfungen, sondern ganz normale englische Begriffe.
Der erste meint den abwertenden (Seiten-)Blick, der zweite heißt schlicht "tollpatschig". Man denke nur an den gleichnamigen grobmotorischen Kumpel von Micky Maus seit 1939. "NPC" schließlich stammt aus dem Gaming-Universum und steht für "Non Playable Charakter". Es bedeutet, dass jemand unwichtig ist. Auch nachvollziehbar.
Egal, welches Siegerwort Sie, liebe Frau Daubner, verkünden, es wird auf jeden Fall ein Vergnügen sein
Unter die letzten Zehn hatten es auch olle Kamellen wie "Slay", "Digga" und "YOLO" geschafft. Sollte der Jugend von heute die Fantasie ausgegangen sein? Ich mein': Hallo?! Das ist doch sowas von Zehnerjahre. Schließlich war "YOLO" 2012 schon Jugendwort des Jahres, wie Sie selbst auch bemerkt haben, liebe Frau Daubner. Und "Digga" gilt, glaube ich, selbst bei der Ü30-Fraktion als reichlich angestaubt.
Angesichts grenzdebiler Wendungen wie "I bims", Sieger im Jahr 2017, konnte in früheren Jahren schonmal Kulturpessimismus aufkommen. Natürlich haben wir damals umgehend erklärt bekommen, dass "I bims" zur "Vong-Sprache" gehört und ursprünglich als Persiflage auf besonders dämlich buchstabierte Sinnsprüche in den Sozialen Medien gedacht war. Aber der Gag hat sich längst totgelaufen und ist auch durch endlose Wiederholungen nicht mehr zu retten.
Aber egal welches Siegerwort Sie, liebe Frau Daubner, verkünden, es wird auf jeden Fall ein Vergnügen sein, Ihnen zuzuhören und zuzusehen. Oder, um es mit Jugendsprache aus dem vergangenen Jahrhundert von 1900 bis 2000 zu sagen: famos, delicat, splendid, fabelhaft, fein, tadellos, wonnig, flott, bombastisch, toff, hip, astrein, galaktisch, granatenmäßig, ultrakrass, verschärft und vielleicht sogar oberaffengeil.
Mit enzyklopädischen Grüßen,
Mathias Wiedemann