Lieber Manuel Neuer,
wissen Sie noch? Vor achteinhalb Jahren, im Campo Bahia, da hing ein Bild mit eurem WM-Motto im Trainerzimmer von Joachim Löw und seinem Assistenten Hansi Flick: "Ein guter Anfang braucht Begeisterung, ein gutes Ende Disziplin!" Der Rest ist wunderschönste deutsche Fußball-Geschichte - mit Ihnen mittendrin und dem Goldpokal in den Händen.
Weltmeisterschaften sind feste Anker im Meer der Erinnerungen. 1982. 1986. 1990. Was für eine Trilogie: Rossi! Maradona! Matthäus! Diese Turniere waren unbeschwerte Sommerwochen mit der Leichtigkeit von Milky Way.
Und jetzt? Wenn ich mich dereinst an diese Weltmeisterschaft in Katar erinnern werde, dann hoffentlich an das Turnier, das eine Zäsur im Umgang mit der Fifa einleitete.
Statt eine Gelbe Karte zu fürchten, lieber die Rote Karte zeigen
Vor sechs Jahren haben Sie mir mal in einem Interview im Trainingslager in Ascona erzählt, wie wichtig Ihrer Ansicht nach der Spaß am Tun für den Erfolg ist. Bei der Nationalmannschaft, so sagten Sie damals, herrsche nie schlechte Stimmung. Nun sitzt ihr abgeriegelt bei der ungeliebten Wüsten-WM in Katar herum und leckt die Wunden nach dem 1:2 zum Auftakt gegen Japan.
Ich würde jetzt gerne mit Ihnen über das Sportliche fachsimpeln. Über die geradezu groteske Schlichtheit des Abwehrverhaltens in der Viererkette und darüber, dass für euch am Sonntag gegen Spanien schon die K.o.-Runde beginnt. Aber, erstens, habe ich das Auftaktspiel nur in Ausschnitten in den Abendnachrichten gesehen. Und, zweitens, es gibt Wichtigeres. Denn es geht um nicht weniger als die wunderbare Idee einer Weltmeisterschaft, um ihre Zukunft. Es geht um den Verrat am Sport und seinen unverhandelbaren Werten. Es geht: um das Ganze!
Wenn die Politik versagt, ist es an der Zeit, dass ihr als weltbekannte Sportler euch nicht vor Gelben Karten wegen des Eintretens für Menschenrechte fürchtet. Sondern, dass ihr selbst die Rote Karte zückt und sie den Weltverbänden zeigt, die in ihren Allmachtsfantasien längst jedes Maß und jeden Wertekompass verloren haben. Wie weit ist es eigentlich gekommen, dass der Sportautokrat Gianni Infantino es den Mannschaften verbieten lassen kann, bei einer Weltmeisterschaft mit einer Regenbogenbinde am Arm aufzulaufen? Einfalt statt Vielfalt.
Eine WM könnte ohne Funktionäre stattfinden, ohne Sportler niemals
Der Sport muss sich selbst reinigen. Ich glaube nämlich, andernfalls wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern in diesen von ebenso geldgeilen wie schamlosen Funktionären geführten Vereinigungen namens Fifa und IOC. Olympia bietet ja das gleiche schäbige Schauspiel. Korruption und Intransparenz muss der Kampf angesagt werden, und die Sportpolitik versagt dabei. Ihr Athleten und Athletinnen aber seid der Motor, durch den diese weltumspannenden Wettbewerbe am Laufen gehalten werden. Ihr seid doch das Herz. Also schlagt!
Ich weiß, es wird kaum möglich sein, sportartenübergreifende Allianzen zu finden, wo es doch auch für euch ums große Geld und große Träume geht. Und doch: Die immer gleichlautenden Argumente von den entbehrungsreichen Trainingsjahren und der "Einmal im Leben"-Chance, sie sind auch ein willkommenes Alibi dafür, sich nicht der Verantwortung zu stellen. Denn natürlich würde ein Boykott der weltbesten Sportlerinnen und Sportler etwas verändern bei Fußball-Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen. Eine WM könnte es auch ohne Funktionäre geben. Ohne Sportler niemals.
Rodler Loch: Katar kritisieren, aber in Peking starten
Der dreimalige Rodel-Olympiasieger Felix Loch hat euch gerade in einem Facebook-Post geraten: "Liebes Germany Football Team, wir alle lieben den Fußball – unsere Freiheit, Demokratie und Menschenrechte aber mehr! Packts zam und kommts nach Hause!" Gut gebrüllt. Aber, die Frage würden Sie ihm sicher genauso gerne stellen wie ich: Weshalb hat er dann Anfang des Jahres an den Olympischen Spielen in Peking teilgenommen? Umweltzerstörung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Missachtung der Menschenrechte - da spielt China mit Katar in einer Liga.
Das Beispiel zeigt: Meine Hoffnung auf eine gemeinsame Reaktion des Weltsports ist gering. Vielleicht ist es tatsächlich auch zu viel verlangt von euch Sportlern. Immerhin: Die Aktion mit der Hand vor dem Mund beim Gruppenfoto fand ich richtig gut. Die vom neuen DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf geäußerte Kritik an der Fifa ist sicher nicht genug, denn erst Taten werden etwas bewirken, aber immerhin: Es sind andere Töne als in den vergangenen Jahren.
Ich weiß nicht, ob bei euch im "Zulal Wellness Resort" am katarischen Wüstenküstenstreifen ein WM-Motto im Trainerzimmer hängt. Wenn nicht, ich hätte einen Vorschlag: "Fußball ist mehr als Sport."
Mit sportlichen Grüßen,
Achim Muth, Redakteur
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