Sehr geehrter Herr Aiwanger,
eine Woche ist Ihre umstrittene Rede bei der Demo gegen das Heizungsgesetz der Bundesregierung im oberbayerischen Erding her. Viel ist darüber schon geschrieben worden. Muss es also nochmal sein? Ich habe lange überlegt. Ja, es muss sein.
Wenn wir diese Gesellschaft nicht noch weiter spalten, wenn wir unsere Demokratie gegen Feinde im Inneren wie im Äußeren verteidigen möchten, dann darf man Ihnen - als Vize-Ministerpräsident und bayerischer Wirtschaftsminister - die Worte von Erding nicht durchgehen lassen. Vor allem diesen einen Satz, in dem Sie sagen, es sei der Punkt erreicht, "wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie zurückholen muss".
Vergeblich auf ein Zurückrudern gewartet
Ich war tatsächlich so naiv - und dachte, dass Sie nach einem Moment des Innehaltens oder nach Rücksprache mit ihnen wohlmeinenden Freundinnen und Freunden Anfang der Woche zumindest den Versuch unternehmen, zurückzurudern. Dass sie von Missverständnissen sprechen würden, die Ihnen leidtäten. Und dass Sie betonen, keinen Zweifel daran zu haben, dass dieses Land eine gefestigte Demokratie ist, in der - bei entsprechenden Mehrheiten - ein Robert Habeck genauso Wirtschaftsminister sein kann wie ein Hubert Aiwanger.

Aber nichts davon. Im Gegenteil: Sie haben Ihre unsäglichen Worte, die ich so oder ähnlich bisher vor allem von Rechtspopulisten und anderen Demokratiefeinden kannte, mehrfach noch rechtfertigt. Mir scheint, Ihr politischer Instinkt und der gesunde Menschenverstand, den Sie ja so gern in der politischen Debatte bemühen, haben Sie verlassen.
Oder handeln Sie mit Vorsatz? Ich mag es nicht glauben.
Aiwanger erweist Freien Wähler an der Basis einen Bärendienst
Dass die Grünen im Landtag Ihre Entlassung fordern, können Sie als Wahlkampfgetöse abtun. Dass CSU-Ministerpräsident Markus Söder und seine Berater nun überlegen, ob es tatsächlich klug war, sich lange vor dem Wahlkampf schon auf Gedeih und Verderb auf eine Fortsetzung der Koalition mit Ihnen und den Freien Wähler festzulegen, mögen Sie belächeln. Und vermutlich ist es Ihnen auch wurscht, dass Sie Parteifreunden und -freundinnen wie den unterfränkischen Spitzenkandidatinnen für Landtag und Bezirkstag, Anna Stolz und Tamara Bischof, im beginnenden Wahlkampf einen Bärendienst erwiesen haben.
Sehr geehrter Herr Aiwanger, mir geht es um etwas anderes. Man muss kein Politikwissenschaftler sein, um zu wissen, dass die Aushöhlung der Demokratie dann beginnt, wenn ihre Vertreterinnen und Vertreter, ihre Institutionen, verächtlich gemacht werden. Ganz schlimm ist es, wenn dies nicht nur am Stammtisch passiert, sondern die Politikerinnen und Politiker, die diese Demokratie eigentlich repräsentieren, sich an solchen Schmähungen beteiligen. Das ist Demokratie-zersetzend.
Bayern und Deutschland sind starke und erfolgreiche Demokratien - da muss sich niemand etwas zurückholen. Hier leben zu dürfen, dafür bin ich sehr dankbar - auch ohne, dass mir jede politische Entscheidung gefällt, die in Würzburg, München oder Berlin getroffen wird. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass die ganz große Mehrheit der Politikerinnen und Politiker, egal ob sie im Gemeinderat ihres Heimatdorfs oder im Deutschen Bundestag tätig sind, sich besten Wissens und Gewissens für das Wohl ihrer Wählerinnen und Wähler einsetzen.
Politischer Streit um Inhalte ist richtig
Aber ja, natürlich gibt es Streit darüber, welches der richtige Weg ist. Um beim sogenannten Heizungsgesetz der Ampel-Regierung zu bleiben: Sicher, die Art und Weise, wie es zustande und wochenlang kommuniziert worden ist, beschädigt Vertrauen. Aber dass die Politikerinnen und Politiker der Regierungsparteien mit ihren Entscheidungen nicht das Ziel verfolgen, dieses Land um seinen Wohlstand zu bringen, darüber kann es keinen ernsthaften Zweifel geben.
Was konkret zu tun ist, darüber stehen Demokraten im Wettbewerb, darüber streitet die Politik. Selbstverständlich dürfen Sie Habeck, Scholz und Co. da auch sehr heftig kritisieren. Am besten begleitet von Alternativvorschlägen, wie wir in Bayern noch schneller als anderswo in Deutschland die Klimaneutralität erreichen. So hat es die schwarz-orange Koalition uns Wählerinnen und Wählern schließlich versprochen. Was die konkreten Vorschläge auf dem Weg dahin betrifft, da bleibt, das werden Sie einräumen, nicht zuletzt bei den Freien Wählern noch Luft nach oben.
Sehr geehrter Herr Aiwanger, streiten Sie weiter, fetzen Sie sich mit Habeck und Co. über den richtigen Weg, da haben Sie mich auf Ihrer Seite. Aber hören Sie auf, die Demokraten und die Demokratie schlecht zu reden - und so zu demontieren.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Czygan, Redakteur
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