Sehr geehrte Frau Lambrecht,
seit dem Jahreswechsel diskutiert Deutschland über ein 55 Sekunden langes Video, das Sie zum Jahreswechsel auf Ihrem persönlichen Instagram-Kanal veröffentlicht haben. "Mitten in Europa tobt ein Krieg", sagen Sie darin. Ihre Worte sind wegen explosionsartigem Knallen nur schwer zu verstehen. Hinter Ihnen steigen Raketen in den Nachthimmel - glücklicherweise nicht abgefeuert von der russischen Armee, sondern von Berlinern, die mit Silvesterfeuerwerk das neue Jahr begrüßen.
Vielleicht mag Ihnen diese Assoziation etwas weit hergeholt erscheinen. Die Ukrainerinnen und Ukrainern aber, die vor Putins Krieg nach Deutschland geflohen sind, werden beim Hören des Silvesterlärms genau daran gedacht haben: an den Krieg in der Heimat. Doch dazu - zu den Opfern, den Geflüchteten, dem Leid vor Ort - verlieren Sie kein Wort. Stattdessen fabulieren Sie retrospektiv auf 2022 von "ganz vielen besonderen Eindrücken, die ich gewinnen konnte", von "vielen Begegnungen mit interessanten, mit tollen Menschen".

Im Netz entluden sich Hohn und Spott. Schützenhilfe bekamen Sie nicht einmal aus Ihrem eigenen Ministerium. Ein Sprecher betonte, Ressourcen des Ministeriums seien dafür nicht verwendet worden. Immerhin. Es handle sich um ein privat aufgenommenes Video, ergänzte er, ohne dass es nach Verteidigung klang. "Die Worte der Ministerin im Video stehen für sich. Es ist nicht an mir, das zu kommentieren."
Das Video ist unprofessionell - inhaltlich wie handwerklich
Das übernahmen ohnehin andere. Und ich kann mich nur anschließen: Ihr Video ist empathielos, Frau Lambrecht. Es ist angesichts der Tatsache, dass in Europa - wie Sie ja glücklicherweise mitbekommen haben - ein Krieg tobt, deplatziert. Und ja, es ist auch unprofessionell. Inhaltlich wie handwerklich. Letzteres sorgte vor allem bei Abgeordneten der Opposition für Häme.
Doch die miese Tonqualität und Ihre vom Wind zerzausten Haare sind nicht das Problem. Ganz nebenbei bemerkt: Ich könnte Ihnen mehrere Bundestagsabgeordnete auch aus unserer Region nennen, die mit schrägen Social-Media-Beiträgen regelmäßig für ungläubiges Kopfschütteln sorgen.
Nicht der erste Ausrutscher auf Instagram
Nein, das Problem ist, dass Ihr empathieloses, deplatziertes und unprofessionelles 55-Sekunden-Filmchen sich einreiht in eine Folge von echten und vermeintlichen Pannen. Eine Auswahl: Die lachhafte Zusage von 5000 Helmen an die Ukraine zu Beginn des Krieges, die Sie als "ein ganz deutliches Signal" bezeichneten. Ihr Stöckelschuh-Auftritt im Wüstensand von Mali, der Ihrem Respekt bei der dort stationierten Truppe alles andere als zuträglich war. Die schleppende Modernisierung der Bundeswehr und die Zweifel, ob Sie kompetent genug sind, das dafür bewilligte 100-Milliarden-Sondervermögen richtig einzusetzen. Das Panzer-Debakel um den Puma, der sich als zahnloser Tiger entpuppte.

Und jetzt Ihr Silvester-Video. Dabei sollten doch gerade Sie wissen, dass man als Politikerin Instagram und Co. vielleicht nicht in durchgestylter Influencer-Doro-Bär-Manier bespielen können muss. Aber die Wucht eines achtlos geposteten Beitrags sollte Ihnen doch nach der Sache mit Ihrem Sohn bekannt sein. Der hatte vergangenes Jahr Oster-Grüße über Instagram verbreitet - mit einem Foto von sich, aufgenommen von Ihnen höchstpersönlich, in einem Helikopter der Bundeswehr-Flugbereitschaft auf dem Weg zu einem Sylt-Urlaub. Rechtlich war die Sache wohl in Ordnung, in der Außenwirkung aber ein Desaster. Ein Warnschuss, den Sie offensichtlich nicht gehört haben.
Wurschtig, unterambitioniert, nicht diensttauglich
Es stellt sich daher - und zwar nicht erst jetzt - die Frage nach Ihrer Diensttauglichkeit, Frau Ministerin. Man habe bei Ihnen nie das Gefühl, es gehe um Leben und Tod, kommentierte die "Zeit" zu Ihrem wurschtigen Video. Dabei geht es doch gerade in Ihrem Ressort genau darum. Eine "unterambitionierte" Verteidigungsministerin könne man "sich nur in Zeiten leisten, in denen die größte militärische Gefahr von der Blechbüchsenarmee der Augsburger Puppenkiste ausgeht", hieß es weiter.
Diese Zeiten sind in der Tat vorbei. Und dafür braucht es an der Spitze des Verteidigungsministeriums eine Person, die unverbraucht ist und nicht mit Stöckelschuhen, Familienausflügen im Bundeswehr-Heli oder schlechten Silvestervideos den Fokus von den großen Herausforderungen unserer Zeit lenkt. Daher machen Sie den Weg frei, Frau Lambrecht, und treten Sie einen geordneten Rückzug an. Aber bitte nicht, um perspektivisch das Innenministerium zu übernehmen, wie in Berlin gemunkelt wird...
Mit freundlichen Grüßen
Benjamin Stahl, Redakteur
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