Sehr geehrte Frau Hennig-Wellsow, drei Bilder bleiben von diesem unfassbaren Mittwoch, 5. Februar.
Das Bild von Bodo Ramelow, der sich in schierer Fassungslosigkeit und Erschütterung die Finger auf die zugekniffenen Augen legt.
Das Bild des Handschlags von Björn Höcke und Thomas Kemmerich, das alle, die im Geschichtsunterricht mal ins Schulbuch geschaut haben, sofort an einen fatalen Handschlag aus dem März 1933 erinnerte. Der AfD-Rechtsaußen schüttelt mit scheinheilig-feister Verneigung die Hand des Landesvorsitzenden der 5-Prozent-Partei.
Und, als drittes und ebenso deutliches Zeichen dafür, was gerade passiert war, das Bild der hingeschmissenen Glückwunsch-Blumen.
Sehr geehrte Frau Hennig-Wellsow, mit Verlaub: Bis zum unfassbaren Mittwochnachmittag kannten Sie hier bei uns in Unterfranken wohl nicht einmal die Mitglieder der Linkspartei. Bodo Ramelow kennen – und achten – sogar CSU-Anhänger und politisch eher Uninteressierte. Susanne Hennig-Wer . . .? Wintersportfreaks mit ausgeprägtem Namensgedächtnis hätten bis Mittwochmittag vielleicht allwissend angemerkt, dass Sie mal als Eisschnellläuferin Leistungssport trieben.
Aber dann diese Wahl im Thüringer Landtag. Diese geheuchelte Überraschung des FDP-Chefs, der sich erdreistete, die Wahl grinsend anzunehmen. Sie, die Vorsitzende der Linksfraktion, gingen mit dem Strauß, den doch der bisherige Ministerpräsident bekommen sollte, auf den soeben gewählten, sich die Hände reibenden Ministerpräsidenten zu. Ließen das Gebinde schnell vor seinen Cowboystiefeln fallen. Nickten kurz und drehten ab.

Es war die Geste des Tages am Mittwoch der politischen Schande. Wortloser Ausdruck der Verachtung.
Dass am Mittwoch noch ein zweites starkes Bild des Anti-Respekts über die Bildschirme flimmerte und in den Sozialen Medien kursierte – eine Laune des Zufalls. Im US-Kongress reißt die ganz in Weiß gekleidete Mehrheitsführerin das Manuskript der Eigenlob-Rede, die der Präsident gerade hielt, provokant in Stücke. Nun ist Erfurt nicht Washington, Sie sind nicht Nancy Pelosi. Aber die beiden Gesten demonstrierten, wie irr Politik geworden ist.
In der Demokratie gratulieren Kontrahenten einander nach Wahlen, so schmerzhaft der Ausgang für den Verlierer auch sein mag. Ob mit oder ohne frische Blumen - das ist ein Gebot des Anstands, des gegenseitigen Respekts. Die Mindestvoraussetzung für ein politisches Miteinander im Parlament.
Nicht zu gratulieren? Sie hätten einfach sitzenbleiben, den Strauß verwelken lassen können. Sie entschieden sich, dem Tabubruch mit einem Tabubruch zu begegnen. Wählten den drastischen Kommentar. Und so, sehr geehrte Frau Hennig-Wellsow, ist nur eine Wurflänge weiter Ihr Name jetzt über Erfurt hinaus bekannt. Und Ihre Geste geht in die politische Ikonografie der Republik ein wie die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld einst dem damaligen Bundeskanzler Georg Kiesinger gab. Wie die Turnschuhe, die Joschka Fischer bei der Vereidigung als Umweltminister im hessischen Landtag trug.

Als Blumenüberbringerin und pflichtschuldige „Gratulantin“ zeigten Sie politische Chuzpe. Eine Geste – frech, anmaßend, dreist in einem ehrwürdig hohen Haus, in dem gewählte Vertreter für das Volk entscheiden und handeln sollen. Aber – kein Begriff kann es besser ausdrücken als dieses schöne jiddische "Chuzpe" – eben nicht nur unverschämt. Sondern auch zielgerichtet, klug und charmant penetrant in der eigenen verzweifelten, ausweglosen Situation.
Dreistigkeit mit Haltung. Sie warfen den Strauß ja nicht. Ließen ihn nur fallen angesichts des Sündenfalls von FDP und CDU. Wären Sie als Fraktionschefin nicht zum frischgewählten politischen Gegner gegangen, es wäre Ihnen als schlechtes Verlieren ausgelegt worden. Als Peinlichkeit. Mit ihrer Art des kleinen Affronts im Angesicht des riesengroßen, mit ihrer Art des unverhohlenen Nichtgratulierens erwiesen Sie sich als ehrliche Politikerin.
Wie soll man auch sonst reagieren angesichts des Versagens aller Vernunft? Angesichts dieses in voller Absicht angerichteten, geplanten Schadens? Dass der Vergleich des Fotos vom Erfurter Handschlag der Schande mit jenem Foto des Hindenburg-Hitler-Handschlags am „Tag von Potsdam“ anno 1933 bei näherer Betrachtung hinkt – ja. Sie werden in jenen Minuten des Entsetzens im Parlament vermutlich nicht historisch gedacht haben. Aber ganz sicher wollten Sie – über das Protokoll hinaus - ein Zeichen setzen. Bleib aufrecht. Zeig‘ Widerstand. Sag's mit Blumen.
Dafür und deshalb, Frau Hennig-Wellsow, Respekt.
Mit freundlichen Grüßen,
Alice Natter, Redakteurin
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