Sehr geehrte Frau Stolz,
seit Bayerns mächtigster Mann, Ministerpräsident Markus Söder, in Reaktion auf schlechte deutsche PISA-Ergebnisse ein bildungspolitisches Machtwort gesprochen und bei der CSU-Winterklausur in Kloster Banz Bayerns Grundschulkindern mehr Deutschunterricht verordnet hat, stehen Sie vor einer kniffligen Aufgabe. Als Kultusministerin müssen Sie die neuen Zusatzstunden in Deutsch und auch in Mathe im ohnehin schon extrem prallen Lehrplan unterbringen. Gleichzeitig müssen Sie entscheiden, wo und ob dafür in Klasse eins bis vier andere Stunden gestrichen werden.
Das hört sich einfacher an als es ist. Denn egal was Sie tun, Sie handeln sich dabei entweder mit Bayerns mächtigster Lehrerin, mit hunderttausenden Eltern oder mit dem Ministerpräsidenten und den christlichen Kirchen Ärger ein.
Die Präsidentin des BLLV will neue Schulstunden auf die bisherigen Wochenstunden drauf
Schauen wir uns die Gegenpositionen näher an: Als Totalverweigerin etwaiger Fächerstreichungen in den Grundschulen hat sich Simone Fleischmann geoutet, die Präsidentin von Bayerns größtem Lehrerverband, dem BLLV. Sie will die geplanten zusätzlichen Deutsch- und Mathe-Zusatzstunden (pro Jahrgangsstufe eine Deutschstunde mehr und in der ersten und vierten Klasse auch je eine Mathestunde mehr) auf die bisherigen Wochenstunden draufsatteln.
Dabei haben Bayerns Drittklässler jetzt schon 28 und die Viertklässler 29 Unterrichtsstunden pro Woche. Kein anderes Bundesland mutet seinen Acht- bis Zehnjährigen so viel Unterricht zu! Zudem würde das Draufsatteln logischerweise bedeuten, dass noch mehr Lehrkräfte als bisher gebraucht würden. Und die gibt es nicht– was niemand besser weiß als Präsidentin Fleischmann, die seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2015 den Lehrermangel alljährlich laut beklagt.
Womöglich halten Sie, Frau Stolz, diese "Draufsattel-Pläne" des BLLV für nicht realisierbar. Aber ob man als junge, neue Kultusministerin Bayerns mächtigster Lehrerin eine Absage erteilt, muss man sich halt auch überlegen...
Protest der Eltern wäre sicher: Viertklässler mit 31 Wochenstunden?
Gehen Sie aber mit Fleischmann und erhöhen die Wochenstundenzahl, werden Bayerns Eltern meutern: 29 Wochenstunden für Drittklässler und 31 Wochenstunden für Viertklässler! Da machen die Eltern nicht mit. Weil sie ihr Kind nicht noch mehr belasten wollen: Schon jetzt haben Viertklässler in Bayern wenig Zeit für Spiel und Spaß. Stattdessen verbringen sie ihre Tage damit, für die vielen Proben in der vierten Klasse zu lernen, deren Ergebnisse dafür entscheidend sind, ob sie das Gymnasium, die Realschule oder die Mittelschule besuchen werden.
Noch mehr Schule, noch weniger frei –kein guter Plan.
In Bayern mehr als anderswo: In der 3 und 4. Klasse gibt es drei Stunden Religion
Also müssen Stunden gestrichen werden. Dass Sport fällt, schließen Sie vernünftigerweise aus. Bleibt das Grundschulenglisch, das laut dem Philologenverband wenig bringt. Und es bliebe als Streichungsfach Religion: ein Fach, das mit drei Stunden pro Woche in Bayern derzeit einen größeren Umfang hat als in allen anderen Bundesländern.

Sie selbst, Frau Stolz, haben sich ja am Anfang der Streich-Debatte offen gezeigt für den Wegfall einer Religionsstunde in der dritten und vierten Klasse. Sie sind aber von Söder niedergebügelt worden: "Bei Religion wird nicht gekürzt!" Begründet hat der CSU-Chef und Ministerpräsident sein Machtwort mit dem Argument, "Werteerziehung" sei in Zeiten wie diesen wichtiger denn je.
Um welche Werte geht es denn wirklich in der Grundschule?
Aber um welche Werte geht es denn wirklich in der Grundschule? Wenn gemeint ist, dass man das Aussehen und das Verhalten der Mitschüler akzeptiert, auch wenn es vom eigenen Aussehen und Verhalten abweicht, wenn also Toleranz, Akzeptanz und Hilfsbereitschaft gemeint sind an Stelle von Mobben, Lästern und Hauen – dann sind es sicher die Lehrkräfte, Erzieherinnen und Mittagsbetreuer, die tagtäglich den Kindern solche Werte vermitteln.
Wenn aber gemeint wäre, dass man in der Schule friedlich zusammenlebt, egal ob man katholisch oder evangelisch ist, jüdisch oder muslimisch oder vielleicht ohne Bekenntnis, dann wirkt die Art des Religionsunterrichts, wie er in Bayern praktiziert wird, aus der Zeit gefallen. Denn in Bayern werden die Kids auch in der Grundschule nach wie vor je nach Religionszugehörigkeit separiert. Wäre aber das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen nicht authentischer vermittelbar durch einen bekenntnisübergreifenden Werte-Unterricht, wie ihn etwa die Stadtstaaten Bremen und Hamburg schon praktizieren?
Legt sich die Freie-Wähler-Ministerin mit dem CSU-Ministerpräsidenten und den christlichen Kirchen an?
Das wären, sehr geehrte Frau Stolz, die Schuldebatte, die ich gerne sähe – gerade angesichts der Tatsache, dass auch in Bayern die Zahl der Kinder, die am christlichen Religionsunterricht teilnehmen, stetig sinkt. Dafür müssten Sie als Freie Wählerin sich aber mit dem CSU-Ministerpräsidenten und den christlichen Kirchen anlegen, sehr geehrte Frau Stolz. Tun Sie's?
Ich bin gespannt, zu welcher Entscheidung Sie kommen und wünsche Ihnen viel Kraft.
Mit freundlichen Grüßen,
Gisela Rauch, Redakteurin
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