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Der Mensch als Herdentier

Leitartikel

Der Mensch als Herdentier

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    Massenauflauf: Die Menschen vor dem Apple-Store im schwäbischen Sindelfingen stehen für das neue iPhone 5 an.
    Massenauflauf: Die Menschen vor dem Apple-Store im schwäbischen Sindelfingen stehen für das neue iPhone 5 an. Foto: Foto: dpa

    Der moderne Mensch – Homo sapiens genannt – machte sich in Afrika vor etwa 200 000 Jahren auf die Beine. Im Laufe der Zeit eroberte er den ganzen Kontinent, besiedelte vor 100 000 Jahren den Nahen Osten und vor spätestens 50 000 Jahren den Rest der Welt. Vor 14 000 Jahren waren alle Kontinente außer der Antarktis besiedelt, darauf folgte die Besiedlung der ozeanischen Inselwelt. Seither prägt der Mensch der Erde seinen Stempel auf.

    Der moderne Mensch lebt heute zwar nicht unbedingt einsam, aber mehr für sich. Die Zahl der Single-Haushalte steigt unaufhörlich, ebenso die der Single-Reisen. Die meisten Menschen in unseren Breitengraden dürften sich als Individualisten bezeichnen. Aber sind sie es? Einem solchen sagt man Eigenschaften wie Zivilcourage, eigenständiges und scharfsinniges Denken nach, auch Eigensinn.

    Wobei das Individuelle auch darin bestehen kann, ein größeres Maß an Kollektivismus anzustreben, heißt es bei der freien Enzyklopädie Wikipedia, die als ein Beispiel das Leben in einem Kloster nennt. Erstaunlich jedenfalls ist der Hang, ja Zwang, zu kollektivem Konsumverhalten, wie er in diesen Tagen deutlich wird: Menschen stellen sich zu Tausenden in die Schlangen vor den Apple-Stores. Nicht, dass sie noch kein Smartphone hätten. Sie wollen einfach zu den Ersten gehören, die ein iPhone 5 in Händen halten. Und ist es nicht merkwürdig, dass sich Hunderttausende Menschen aus allen Teilen des Freistaates, ja der Republik aufmachen nach München zum Oktoberfest, nachdem sie sich in ein Dirndl oder in die Lederhose vom Discounter gezwängt haben?

    Um an die Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom schwimmen, sagt ein Sprichwort, das dem chinesischen Philosophen Konfuzius (551-479 v. Chr.) zugesprochen wird. Aber manchmal ist der Mainstream halt einfach zu stark. Harald Martenstein hat 2008 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein bemerkenswertes Essay veröffentlicht. „Der Sog der Masse“ attestiert dem Mainstream gewaltige Kraft. Das Gute daran ist, so Martenstein, dass man nicht groß nachdenken muss. Man wirft sich einfach hinein in den Strom und lässt sich gemütlich treiben. In den Strom derer, die stets mit dem aller-allerneuesten Smartphone unterwegs sind. Inmitten derer, die sich nicht ohne bayerisch-österreichisch-alpenländische Tracht auf „die Wiesn“ oder eines der Volksfeste im Fränkischen trauen.

    Die meisten Menschen sind nicht gerne alleine. Sie möchten Erfolg haben, geliebt und bewundert werden, da unterscheidet sich der moderne Mensch unserer Zeit vermutlich nicht von jenem, der sich vor 200 000 Jahren von Afrika aus aufmachte, um die Welt zu erobern – sehr einfach gekleidet und bewaffnet.

    Ein Mainstream entsteht durch einfache Botschaften und starke Bilder, die man nur oft genug wiederholen muss. Das weiß, wer sich mit Massenpsychologie beschäftigt oder einfach aus der Geschichte gelernt hat. Durch diese Botschaften und Bilder werden Menschen zur Masse, zu einem Gemeinschaftsgeschöpf, das anders funktioniert als der Einzelne. Wie der Schwarm, in dem sich alle, Fische oder Vögel, Richtung Mittelpunkt orientieren und in dieselbe Richtung schwimmen oder fliegen wie ihre Nachbarn.

    Im Tierreich spricht man von Schwarmintelligenz. Durch sie wird sichergestellt, dass der Schwarm zusammenbleibt, durch sie werden Zusammenstöße verhindert. Auch die Masse der Oktoberfestbesucher lässt sich treiben, fesch gekleidet, versteht sich, aber von außen betrachtet ein wenig uniform. Von Schwarmintelligenz mag man kaum sprechen. Das Wort Herdentrieb trifft es irgendwie besser.

    Die Masse Mensch, die dem Mainstream folgt, ist nicht unbedingt intelligent, das wissen wir aus der Geschichte, aus der jüngsten deutsche Vergangenheit allemal. Eher ist das Gegenteil der Fall. Die Masse Mensch kann leichtgläubiger sein, kann sprunghafter und brutaler reagieren als ein einzelner, denkender Mensch.

    Und die Politik? „Manchmal habe ich den Eindruck, dass Deutschland von einer Einheitspartei neuen Typs beherrscht wird, der Mainstreampartei“, schreibt Martenstein. Eine bedenkenswerte Feststellung. In Politik wie Journalismus zeichnet sich seit Jahrzehnten ein Trend hin zur Mitte ab, auch wenn das politische Spektrum farbiger leuchtet. Alle reden von Ökologie, von Klimaschutz, von Gerechtigkeit, fordern mehr Geld für Bildung. Der Bundestag scheint wie ein einziger großer Schwarm, der der aktuellen Strömung folgt, in Sachen Euro-Rettung allemal. Kanzlerin Angela Merkel agiert wie ein Fisch im Schwarm, einer unter vielen. Dass sie zu den Getriebenen gehört, beim Atomausstieg wie in der Schuldenkrise, das sagt sie selbst: alles alternativlos.

    Nichts ist alternativlos, fast nichts. Niemand muss seinen Körper in bajuwarische Tracht zwängen, um fröhlich feiern zu können. Gegen die Uniformität der Politik sind deutlich mehr Querdenker erwünscht. Zu Recht beklagen wir, dass kaum noch „Urgestein“ vorhanden ist, bereit, sich dem Mainstream in den Weg zu stellen – mit der Kraft eigener Überzeugungen.

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