Claudia Roth kommt! Am Freitagabend! Ins Tirili! Als DJane!“ So verkünden es die Plakate der Grünen Jugend Würzburg. Bloß die DJane selbst weiß noch nichts von ihrem Glück. „Platten auflegen? Ich?“ staunt Claudia Roth, als sie hört, was Würzburg von ihr erwartet. „Hab' ich noch nie gemacht.“
Da steht sie jetzt, in üppigst goldverzierter Lederjacke überm schwarzen Abendkleid und versucht, sich in der Düsternis der Disco zu orientieren. Die Bundesvorsitzende der Grünen ist allein gekommen. Kein Leibwächter, der sie abschirmt, kein discoerfahrener Referent, der ihr an den Turntables helfend zur Seite stehen könnte. Peinlich?
Ach was. Erst mal mit den Leuten reden . . . Schnell steckt sich Roth noch ein verlockend aussehendes grünweißes Gratis-Gummibonbon zwischen die Zähne, dann nimmt sie das Mikro und freut sich laut und glaubwürdig über die vielen Leute, die gekommen sind – sei es aus Versehen, wegen Roths Vortrag über Rechtsradikalismus oder wegen der anschließenden Musikaktion.
Roth erzählt, wie sie, nach Beleidigungen gegen ihre behinderte Schwester, nach offenen Angriffen auf den schwulen Rio Reiser, dessen Band-Managerin sie jahrelang war, in den Achtzigern nicht anders konnte als sich politisch zu engagieren: für Toleranz. Gegen Diskriminierung. Für die Grünen, gegen die Rechten! Sie spricht ohne Manuskript, sie spricht leidenschaftlich, sie schaut die Leute an und sie kriegt sie alle – nach zwei, drei Minuten hat sie ihre Zuhörer im Griff. „Politiker, die frei sprechen und nicht irgendwelche vorgefertigten Texte ablesen, sind ja heute die Ausnahme. Schon allein deshalb hat Roth meinen Beifall“, meint Steffi, die Barkeeperin.
Gegner unterstellen der Grünen-Chefin gern, sie halte keine Distanz, weder zu Themen noch zu Personen. Und das stimmt. Sie lässt die Leute ganz nah an sich herankommen, will keine Fremdheit sehen. Küsschen für den Wirt. Küsschen für den jungen Discjockey, den sie vorher noch nie getroffen hat und der ihr jetzt schnell die Knöpfe und Regler der Anlage zeigen soll. Die Playlist für den Abend hat Roth selbst zusammengestellt – das immerhin war abgesprochen : „La Paloma Blanca“, gefolgt von den „Biermösl-Blosn“, den „Goldenen Zitronen“ und natürlich Rio Reiser mit dem, sagt Roth „schönsten Liebeslied, das je geschrieben wurde“: „Für immer und Dich.“ Peinlich, diese Zusammenstellung?
„Ich habe einfach die Musik ausgesucht, die ich selbst mag – wenn es Euch stört, könnt Ihr Euch beschweren. Aber Ihr werdet wenig Erfolg haben!“, ruft sie in die Menge. Dann zieht sie in ihrer Begeisterung den Lautstärkeregler so weit hoch, dass die Bässe bis in die Bauchnerven wummern und Dominik, der Discjockey, ihr sagen muss, dass Rio Reiser – jedenfalls wenn er mit 97 Dezibel gespielt wird – gehörnervenschädigend ist. Bei Chers „Shoop Shoop Song“ lässt Roth die Anlage Anlage sein; sie zieht auf die Tanzfläche und hottet sich im Abendkleid und rockt in ihren goldenen Ballerinas ab. „Woh-oh-oh kiss him..... and squeeze him tight“, singt Cher, und Roth singt lauthals mit.
Auch die spontanen Gefühlsäußerungen der Grünen werden gern kritisiert: So viel Lachen, so viele Tränen, so viel Betroffenheit in einer einzigen Frau! Das könne doch gar nicht echt sein, meinen Gegner und unterstellen Inszenierungswut – bei einer gelernten Dramaturgin, die Roth ja ist, ist der Gedanke natürlich nicht von der Hand zu weisen. Aber wer Emotionalität mit Oberflächlichkeit verwechselt, unterschätzt diese Frau.
Mit aufgeregtem Gerede allein kommt man nicht dahin, wo sie ist. Ohne ihren scharfen Verstand wäre es ihr kaum gelungen, die grüne Basis während ihrer ersten Amtszeit als Parteivorsitzende von 2001 bis 2002 dazu zu bringen, so viele Kröten zu schlucken, wie sie es tat: Roth verteidigte gegen grüne Fundamentalisten die Atommülltransporte, wachte über die Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms und trug dazu bei, dass die Koalition nicht schon nach dem 11. September 2001 platzte. Eine Pragmatikerin. Als Kanzler Schröder die Parlamentsabstimmung über die Beteiligung Deutschlands an Auslandseinsätzen mit der Vertrauensfrage verband, sorgte nicht zuletzt Roth dafür, dass die Kanzlermehrheit stand.
Sie arbeitet durch. Auch in der Opposition, deren Frontfrau sie seit 2006 ist. Ihre Wochenarbeitszeit einschätzen kann sie nicht. „Nur so viel: Die Arbeit hört überhaupt nicht auf“, sagt sie. „Als Parteivorsitzende ist es schwer zu sagen: Da halte ich mich jetzt komplett 'raus“. Deswegen müsse sie ihr Handy immer anlassen, auch im Urlaub, den sie in der Türkei verbringen wolle, gemeinsam mit Freunden – „vielen Künstlern“.
„I don't feel like dancing..“ Der junge Discjockey hat gerade Roths Playlist durchbrochen und lockt mit den „Scissor Sisters“ Leute auf die Tanzfläche, die bei „Ton, Steine, Scherben“ nur gegähnt haben. Das stört sie nicht, nicht sehr. Was ist der Frau, die von manchen als peinlich empfunden wird, denn selbst peinlich? „Wenn ich nicht Bescheid weiß. Wenn ich eine Frage nicht beantworten kann, weil mir das Wissen fehlt“, antwortet Roth. Ob sie sich selbst als Perfektionistin sieht? „Absolut!“, sagt Roth. Und geht zurück zur Anlage. Deren Geheimnisse kriegt sie auch noch raus.
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Zur Person
Claudia Roth Geboren 1955 in Ulm, absolvierte Claudia Roth eine Ausbildung zur Dramaturgin, bevor sie 1982 Managerin der Band „Ton, Steine, Scherben“ wurde. Von 1985 bis 1989 war sie Pressesprecherin der Grünen. 2001 wurde sie erstmals zur Bundesvorsitzenden der Partei gewählt. Seit Dezember 2006 hat sie erneut dieses Amt inne.