Über kaum ein anderes Thema wird seit Beginn der Pandemie so leidenschaftlich diskutiert und gestritten wie über die Freiheit. Das ist nicht verwunderlich. Denn noch immer sind coronabedingt Grundrechte hierzulande eingeschränkt. Für viele Menschen ist das schwer erträglich. Schließlich gehört Freiheit zu den Stützpfeilern unseres Grundgesetzes. Deshalb ist es wichtig, sich unermüdlich kritisch mit Entscheidungen der Politik auseinanderzusetzen, die den Handlungsspielraum der Bürgerinnen und Bürger begrenzen.
Allerdings zeigt sich vermehrt, dass Freiheit zunehmend als politischer Kampfbegriff in Diskussionen missbraucht wird. Vor allem von Sympathisanten aus dem Querdenker-Milieu. Sie empfinden die gesundheitlichen Schutzmaßnahmen des Staates als willkürliche Strafmaßnahme und Machtmissbrauch einer "faschistischen Diktatur". Diese Haltung offenbart ein absurdes Freiheitsverständnis, das nur eines anstrebt: Selbstbestimmung um jeden Preis.
Die selbsternannten Freiheitskämpfer übersehen, dass Freiheit nicht grenzenlos ist
Dabei übersehen die selbsternannten Freiheitskämpfer, dass Freiheit keineswegs grenzenlos ist. John Stuart Mill, einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts, bezeichnete Freiheit zwar als "ersten und stärksten Wunsch der menschlichen Natur, der es dem Individuum erst ermöglicht, seine Fähigkeiten, seinen Geist und seine Moral voll zu entwickeln". Das gelte aber nur so lange, wie sein Verhalten anderen nicht schade.
"Grundrechtliche Freiheit bedeutet kein Recht auf Selbstverwirklichung um jeden Preis."
Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts
Dieser Grundsatz ist heute so aktuell wie damals. Daran lässt Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, keinen Zweifel: "Wer seine persönliche Freiheit um den Preis der Freiheit der anderen verabsolutiert, kann dies nicht aus dem Grundgesetz herleiten", sagte er kürzlich dem "Handelsblatt". Das Grundgesetz habe nicht nur einen Menschen im Blick, sondern mehr als 80 Millionen. "Grundrechtliche Freiheit bedeutet kein Recht auf Selbstverwirklichung um jeden Preis."
Die Verfassung ist also neben den grundlegenden Freiheits- und Menschenrechten auch der gesellschaftlichen Solidarität und dem Gemeinwohl verpflichtet. Eine Erkenntnis, die der Historiker Jens-Christian Wagner bei den Querdenkern vermisst: "Ihnen geht es um die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte zu Lasten der durch Corona besonders Gefährdeten."
Aufgabe der politisch Verantwortlichen ist und bleibt es, im Kampf gegen das Virus die Balance zu wahren zwischen persönlicher Freiheit, Eigenverantwortung und Gemeinwohl. Dabei muss ihr Vorgehen verhältnismäßig sein. Ist ein zentrales Ziel erreicht, wie beispielsweise die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu bewahren, können die Beschränkungen nicht ohne Weiteres aufrechterhalten werden. Der Staat steht in der Pflicht, die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger keinen Tag länger als notwendig zu beschneiden.
Gut möglich, dass unsere gesellschaftliche Solidarität bald wieder stärker gefordert sein könnte.
Dieser Verpflichtung kommt er bundesweit umfangreich nach. So hat die Bayerische Staatsregierung in dieser Woche eine neue Corona-Verordnung beschlossen, die eine Kehrtwende in der Bekämpfung des Coronavirus bedeutet. Unter anderem wurde die Sieben-Tage-Inzidenz als Maßstab und alle damit verbundenen Beschränkungen gestrichen.

Nach eineinhalb Jahren Pandemie mit zahlreichen Entbehrungen und Belastungen sorgen diese Lockerungen bei vielen Menschen für ein befreiendes Gefühl. Trotz einer Impfquote von über 60 Prozent ist die Corona-Krise jedoch nicht vorbei. Durch die Delta-Variante steigen die Zahlen auch in Deutschland wieder rasant an. Nicht nur der Berliner Virologe Christian Drosten warnt deshalb zu Recht vor verfrühter Partystimmung. Experten halten im Herbst neue Corona-Beschränkungen für wahrscheinlich.
Gut möglich, dass gesellschaftliche Solidarität bald wieder stärker gefordert sein könnte.