Was in den vergangenen zwei Wochen in Chemnitz geschah, ist gesellschaftlich und politisch ein Trauerspiel. Erst der Tod eines 35-Jährigen, der vermutlich von zwei Asylbewerbern erstochen wurde. Dann die Protestveranstaltungen, an denen auch Rechtsextremisten beteiligt waren und während denen es zu Übergriffen auf Polizisten, Journalisten und Ausländer kam. Als wäre das nicht schlimm genug, sorgten Politik und Gegendemonstration nicht dafür, dass sich die aufgeheizten Gemüter wieder beruhigen – im Gegenteil.
- Chronologie: Was in Chemnitz geschah - und die Folgen
Da wäre zunächst die Diskussion um den Begriff „Hetzjagd“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Regierungssprecher Steffen Seibert benutzten ihn, Medien zitierten ihn. Merkels Parteifreund, der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, widersprach: Es habe „keine Hetzjagd“ gegeben. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, erklärte, seiner Behörde lägen keine belastbaren Informationen darüber vor, dass bei den Demonstrationen in Chemnitz „Hetzjagden“ stattgefunden hätten.
Verfassungsschutzpräsident sorgt für einen politischen Skandal
Es ist unglaublich, dass es auf dieser hohen politischen Ebene und bei einem Thema, das die ganze Republik beschäftigt, zu solch unterschiedlichen Einschätzungen kommt. Noch unglaublicher ist die mögliche Erklärung: So wurde am Freitag bekannt, dass sich Merkel und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nicht über die Erkenntnisse des Seehofer unterstehenden Verfassungsschutzes und über die Ereignisse in Chemnitz beraten haben. Dass Maaßen stattdessen öffentlich nicht nur der Kanzlerin widerspricht, sondern sogar suggeriert, dass Medien bewusst Falschinformationen streuen und so den „Lügenpresse“-Krakeelern das Wort redet, ist schon ein politischer Skandal. Die Deutungshoheit darüber, was tatsächlich in Chemnitz passiert ist, haben Bundesregierung und Verfassungsschützer durch ihr unkoordiniertes Handeln längst verloren.
- Pressespiegel: So denkt die Welt über Chemnitz
Doch nicht nur das ist Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker, der Rechtsextremen und Populisten. Auch der Gegenprotest spielte denen in die Karten, gegen die eigentlich demonstriert wurde. 65 000 wollten in Chemnitz bei einem Open-Air-Konzert unter dem Motto „Wir sind mehr“ ein Zeichen gegen Rassismus und Hass setzen. Zu was dann aber gefeiert und getanzt wurde, war so gar nicht hassfrei: „Meine Hausaufgaben mussten irgendwelche deutschen Spasten machen (...) Ich ramm die Messerklinge in die Journalistenfresse (...) Trete deiner Frau in den Bauch, fresse die Fehlgeburt“, textet die Hip-Hop-Gruppe „K.I.Z.“. Der Song „Ein Affe und ein Pferd“, aus dem die Zeilen stammen und der unter anderem in Chemnitz gespielt wurde, dreht sich weiter um Drogen, um noch mehr Gewalt und um eine Vergewaltigung der Ex-„Tagesschau“-Sprecherin Eva Herman, die inzwischen rechtspopulistische Thesen vertritt.
„Wir-sind-mehr“-Demo erwies Kampf gegen Hass einen Bärendienst
Wer sich in der Hip-Hop-Szene auskennt, erklärt solche Texte damit, dass Provokation Teil dieser Musikrichtung ist. Dass sich gerade „K.I.Z.“ durch Ironie, Sarkasmus und schwarzen Humor auszeichnen. Und überhaupt gilt ja noch die künstlerische Freiheit. Doch selbst wenn man diese Erklärungen für die Textzeilen gelten lässt – was man nicht zwangsläufig muss –, stellt sich die Frage, warum es ausgerechnet auf einem Konzert gegen Hass solche Lieder auf die Bühne schaffen. Wie passt das zusammen? Und ist den Musikern und Demonstranten nicht klar, dass solche Episoden von ihren Gegnern mit Handkuss aufgegriffen werden? Prompt zitierte AfD-Chef Jörg Meuthen in einer Talkshow aus dem „K.I.Z.“-Repertoire und brachte damit die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt in Erklärungsnöte.
Dass die Umfragewerte der AfD in den vergangenen Tagen erneut stiegen, überrascht da wenig. Im Osten hat sie dieser Tage sogar erstmals die CDU überholt. Getan hat die Partei dafür recht wenig. Warum auch? Den Wahlkampf besorgen andere für sie.