Anselm Bilgri hat mit Partnern in München die „Akademie der Muße“ gegründet. Dort können Menschen lernen, wie sie gelassener werden und vermeiden, vor lauter Stress auszubrennen. Der frühere Benediktiner-Mönch wurde als Prior und wirtschaftlicher Leiter des Klosters Andechs bekannt.
Frage: Herr Bilgri, wie geht es Ihnen im Hamsterrad des Lebens? Heute ist doch jeder gestresst, selbst wenn er eine Akademie der Muße betreibt.
Anselm Bilgri: Ganz ehrlich: Ich bin überhaupt nicht gestresst. Ich dosiere meine Arbeit, also Seminare, Vorträge und auch seelsorgerische Gespräche so, dass ich mich nicht gestresst fühle. Und ich lasse mich nicht durchtakten. Zwischen allen Terminen muss mindestens ein Puffer von 15 Minuten liegen, besser ist eine halbe Stunde. Ich stimme mich auf jeden Gesprächspartner ein. Das hat etwas mit Wertschätzung zu tun.
Ein Leben ohne Hamsterrad. Sie sind zu beneiden.
Bilgri: Glauben Sie wirklich, dass da jemand von außen an diesem Rad dreht? Das geschieht natürlich nicht. Das sind schon wir selbst, die in das Rad einsteigen und laufen. Stress entsteht immer dann, wenn ich glaube, mit den Anforderungen, die an mich gestellt werden, nicht zurechtzukommen.
Aber müssen nicht viele im Hamsterrad immer schneller laufen, weil Arbeit immer mehr verdichtet wird?
Bilgri: Das stimmt. Die Beschleunigung ist enorm. Menschen müssen immer mehr Arbeit in immer kürzerer Zeit leisten. Dennoch sind die Arbeitgeber nicht allein für die Entwicklung verantwortlich. Wenn er will, kann der Mensch aus dem Hamsterrad aussteigen und seine Situation distanziert von außen betrachten. Vor lauter Rennen reflektieren wir die eigene Tätigkeit nicht mehr.
Selbsterkenntnis ist damit der Weg aus dem selbst verschuldeten Hamsterrad. Also nichts wie raus aus dem Rad?
Bilgri: . . . um dann zu erkennen, wie hoch der eigene Anteil an der Stress verursachenden Situation ist. Vielleicht kann man sogar über sich selbst lachen. Wem das gelingt, der ist weit vom Burn-out entfernt.
Burn-out ist vor allem in Deutschland ein Thema. In südeuropäischen Ländern taucht der Begriff kaum auf. Woran liegt das? Sind wir die Stress-Weltmeister?
Bilgri: Das hat sehr viel mit unserer deutschen Mentalität zu tun. Geprägt wurde diese Mentalität, also ein ausgeprägtes Arbeitsethos, auch vom Gründer des Ordens, dem ich lange angehört habe. Benedikt von Nursia hat ja die Forderung des „Ora et labora“, also zu beten und zu arbeiten, formuliert. Durch den deutschen Protestantismus, die Reformatoren Luther und Calvin wurde dieses Arbeitsethos noch weiter überhöht. Wir Deutschen haben das enorm verinnerlicht.
Ist das ein nationaler Defekt?
Bilgri: Unser Selbstwertgefühl hängt viel zu stark von unserer Arbeit ab. Die Ökonomisierung unseres Lebens fängt auch viel zu früh an. Kinder müssen Fachwissen pauken, weil es ihnen später beruflich nützen könnte. Dabei würde es reichen, wenn ihnen Allgemeinwissen vermittelt wird. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat zum achtstufigen Gymnasium geführt, was viele überfordert.
Luther stellte ja unbarmherzig fest, der Mensch sei zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Ist Müßiggang wirklich aller Laster Anfang?
Bilgri: Ganz und gar nicht. Wir müssen mehr Mut zur Muße haben und auch zum Müßiggang. Einmal faul zu sein, kann einem Kraft geben. Und wir müssen von diesem reinen Effizienzdenken weg, ob in der Schule oder im Beruf. Der Dichter Schiller hatte recht: Der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er spielt. Wir müssen wieder lernen, Zeit einfach so vergehen zu lassen – und das für eine lange Weile, ohne dabei Langeweile zu empfinden. Nicht alles, was wir tun, muss einem Zweck unterworfen werden.
Ist Ihnen nie langweilig?
Bilgri: Nein, auch wenn ich einige Stunden nichts zu tun habe. Dann lese ich ein Gedicht, lasse es auf mich wirken und kann dabei wunderbar abschalten. Vielleicht ein Glas Rotwein dazu und eine Zigarre. Lesen ist ein wunderbares Mittel zur Entschleunigung. Und Lesen regt die Fantasie an. Dabei lerne ich die Gedichte nichts auswendig, wie der Hirnforscher Ernst Pöppel empfiehlt. Das wäre ja wieder Arbeit.
Müßiggang kann zu aller Ideen Anfang werden. Der französische Poet Saint-Pol-Roux soll vor dem Schlafen ein Schild mit der Aufschrift „Poet bei der Arbeit“ vor sein Zimmer gehängt haben. Ein Vorbild?
Bilgri: Das ist die richtige Strategie. Doch heute takten die Menschen sogar ihre Wochenenden durch. Das überhöhte Arbeitsethos ergreift so Raum in ihrer Freizeit. Das ist eine Fortsetzung des Stresses mit anderen Mitteln. Man spricht ja auch von Freizeitstress. Ich empfehle den Menschen, mehr Mut zum Faulsein zu haben. Dabei tragen sie Arbeit wie eine Monstranz vor sich her. In Bürohäusern sieht man dauernd Menschen, die laufen, anstatt normal zu gehen.
Wie viel Arbeit macht es, faul zu sein?
Bilgri (lacht): Muße zu lernen macht Mühe. In unseren Kursen raten wir Gestressten zur Meditation, das sind feste Zeiten der Stille. Konkret heißt das, für mehrere Stunden den Laptop runterfahren, das Smartphone ausschalten, sich hinsetzen und möglichst an nichts zu denken.
Der Physiker Ulrich Schnabel empfiehlt, alle Uhren am Sonntag in einen Schrank zu sperren. Müssten da nicht auch Smartphones und Laptops rein?
Bílgri: Am wichtigsten ist, dass der Mensch reflektiert, was technische Spielzeuge mit ihm machen. Erfunden wurden sie, um uns Arbeit abzunehmen. Doch wir erleben oft das Gegenteil: Laptops und Smartphones sind dafür das beste Beispiel. Die Technik dient nicht mehr dem Menschen. Der Mensch wird zum Diener der Technik. Doch er muss Herr bleiben über sein Smartphone und nicht umgekehrt, sonst kann er krank werden.
Also raus aus dem Sklavendasein und das Handy einfach wegschmeißen?
Bilgri: Aussteigen bringt nichts. Man muss zum Herrscher über die Technik werden. In der Erziehung muss der Umgang mit Technik eine größere Bedeutung einnehmen. Wir bräuchten ein eigenes Schulfach.
Kann man Muße lernen?
Bilgri: Man kann lernen, dass man mehr Muße braucht. Diese Sensibilität ist wichtig. Man kann sich Inseln der Muße schaffen. Dazu muss der Mensch nicht reich sein und in fernen Ländern Urlaub machen. Muße lässt sich kostenlos in einem Park finden.
Waren Sie immer so stressfrei, auch als Sie das Kloster Andechs und die Brauerei zu einer über Bayern hinaus bekannten Marke geformt haben?
Bilgri: Im Kloster kannte ich eigentlich keinen Stress. Gerade das Beten und Innehalten am Mittag habe ich geschätzt. Diese 15 Minuten, bis die Glocke schlug, waren enorm beruhigend. Das hat einen wunderbar entschleunigt. Morgens haben wir um 6 Uhr gebetet und abends um 19.30 Uhr. Stress hatte ich zuvor, in meiner Zeit als Jugendseelsorger in München. Da war ich für alle Innenstadtgemeinden zuständig und jeden Abend unterwegs, war aber trotzdem morgens um 5 Uhr im Chorgebet. Ich war übereifrig. Da wurde ich krank, bekam eine Gürtelrose. Eine Ärztin riet mir, mehr zu schlafen. Ich habe dann die Tätigkeit als Jugendseelsorger abgegeben.
Anselm Bilgri
Der heute 60-jährige Anselm Bilgri trat 1975 in die Benediktinerabtei Sankt Bonifaz in München und Andechs ein. Er studierte Philosophie und Theologie und wurde 1980 zum Priester geweiht. Bis 1985 arbeitete Bilgri in der Pfarrseelsorge des Klosters. Bekannt wurde er als Cellerar, also wirtschaftlicher Leiter der Abtei St. Bonifaz in München und Andechs. Mit ökonomischem Geschick gelang es ihm, die Marke „Kloster Andechs“ weit über das dort produzierte und ausgeschenkte Bier hinaus zu profilieren. Er wurde zum Gesicht des Klosters, was ihm intern Probleme einbrachte. Es kam zu Differenzen mit dem neuen Abt des Klosters. Bilgri entschloss sich, nach einem Sabbatjahr nicht in das Kloster zurückzukehren und aus dem Orden auszutreten. In einer zweite Karriere berät Bilgri Unternehmen, hält Vorträge, veranstaltet Seminare und schreibt Bücher. Im März gründete er mit Partnern die Akademie der Muße. Text: sts/FOTO: S. Kiefer