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Wir über uns: Warum wir keine Bilder von getöteten Zivilisten aus Butscha zeigen

Leitartikel

Wir über uns: Warum wir keine Bilder von getöteten Zivilisten aus Butscha zeigen

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    Der 70-jährige Konstyantyn steht rauchend auf einer Straße in Butscha, wo die russische Armee zahlreiche Gräueltaten an Zivilisten verübt hat.
    Der 70-jährige Konstyantyn steht rauchend auf einer Straße in Butscha, wo die russische Armee zahlreiche Gräueltaten an Zivilisten verübt hat. Foto: Rodrigo Abd, AP/dpa

    Es sind schreckliche Bilder, die aus dem ukrainischen Butscha gerade um die Welt gehen. Sie lösen Entsetzen, Trauer Abscheu und Wut aus. Nach dem Rückzug russischer Truppen aus dem Kiewer Vorort wurden dort Hunderte Leichen entdeckt. Journalistinnen und Journalisten der Nachrichtenagentur AP berichteten von Getöteten in Zivilkleidung, die laut Zeugenberichten offenbar  regelrecht hingerichtet wurden. Manche Opfer lagen mit gefesselten Händen auf der Straße.

    Die Zeitung "Ukrajinska Prawda" meldete unter Berufung auf einen Bestattungsdienst, bis Sonntagabend seien 330 bis 340 leblose Körper eingesammelt worden. Die Suche nach weiteren Opfern dauerte auch am Montag an. "Das ist eine Hölle, die dokumentiert werden muss, damit die Unmenschen, die sie geschaffen haben, bestraft werden", schrieb die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa auf Facebook.

    Die Gräueltaten in Butscha und vielen anderen Städten der Ukraine verdeutlichen auf grausame Art und Weise, wie brutal und rücksichtslos der russische Präsident Wladimir Putin diesen Krieg führen lässt. Unsere Redaktion berichtet seit Beginn der Kriegshandlungen umfangreich in Wort und Bild über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – mit einer Einschränkung: Wir haben uns nach intensiver Diskussion von Anfang an entschieden, keine Bilder von Toten zu zeigen. Dabei bleiben wir – ungeachtet des Massakers von Buschta.

    Zeithistorisches Dokument oder Sensationsjournalismus?

    Uns ist klar, dass es in dieser Frage kein richtig oder falsch gibt. Weltweit wird in den Redaktionen kontrovers darüber diskutiert. Zuletzt am 7. März, als die "New York Times" ein Foto der amerikanischen Fotografin Lynsey Addario auf der Titelseite veröffentlichte. Die Aufnahme aus dem ukrainischen Irpin entstand kurz nachdem russische Soldaten flüchtende Zivilisten unter Beschuss genommen hatten.

    Zwischen ukrainischen Kämpfern liegt ein junger Mann, das Gesicht blutüberströmt. Soldaten knien über ihm und fühlen ihm den Puls. Hinter ihm zu erkennen: die leblosen Körper einer Frau und zweier Kinder. "Es sah so aus, als würden sie schlafen. Als wären alle plötzlich stehen geblieben und umgefallen", beschrieb Lynsey Addario im Podcast "The Daily" die furchtbare Szene.

    Die einen sahen in dem Foto das zeithistorische Dokument eines Kriegsverbrechens, andere warnten vor Sensationsjournalismus. Medienethikprofessor Christian Schicha von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sagt: "Fotos von Opfern des Krieges zu zeigen, ist grundsätzlich angemessen, um das Grauen des Krieges zu dokumentieren. Gleichwohl ist darauf zu achten, dass diese Menschen nicht zu identifizieren sind, um die Opfer und ihre Angehörigen zu schützen. Insofern sollten die Gesichter nicht gezeigt werden." Unsere Redaktion hat seinerzeit darauf verzichtet, das Bild zu veröffentlichen.

    Fotos wie das von Lynsey Addario entfalten eine mitunter große Wirkung. Sie wecken vor allem Emotionen. Wen lässt es schon kalt, wenn solche Bilder auftauchen. Oder von bombardierten Geburtsstationen? Von zerfetzten Menschenkörpern? Unsere Redaktion hat den Anspruch zu sagen, was ist. Aber sollten wir auch immer zeigen, was ist – in aller Konsequenz und Brutalität?

    Ziffer 8 des Pressekodex besagt: "Bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein." Und Ziffer 11 ergänzt: "Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird." Auch wie eine Bebilderung von Gewalt auf Kinder und Jugendliche wirken könnte, sollte vor einer Veröffentlichung bedacht werden.

    Bei den Bildern aus Butscha ist größte Zurückhaltung geboten

    Für die Redaktionen bedeutet das, intensiv abzuwägen, auf welche Art und Weise das in Ziffer eins formulierte Gebot der "wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit" erfüllt werden kann. Was ist den Leserinnen und Lesern zuzumuten? Was sollte unterbleiben? Und wie lässt sich die Entscheidung begründen? Unser Grundsatz lautet: Wir zeigen keine Bilder, auf denen Gesichter identifizierbar sind, die den Betrachter verstören können oder die den Anspruch auf Totenruhe verletzen.

    "Aus pflichtethischer Sicht lässt sich mit dem Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant argumentieren: Es sollte kein allgemein gültiges Gesetz sein, Bilder von Leichen zu veröffentlichen, ebenso wenig Bilder von Menschen, die im Sterben liegen", sagt Marlis Prinzing, Studiendekanin am Campus Köln der Hochschule Macromedia. "Dagegenhalten ließe sich die Verpflichtung von Journalisten und Journalistinnen, zu publizieren, was von öffentlicher Relevanz ist. Und Kriegsverbrechen zu dokumentieren, ist zweifellos relevant."

    Hinzu kommt: Fotos aus Kriegen können Ikonen werden, so Marlis Prinzing. Sie können Symbolkraft entfalten für viele ähnliche Situationen oder auch Dokument sein für ein außergewöhnliches Ereignis. Historisches Beispiel ist das nach einem Napalm-Angriff in Vietnam weglaufende Mädchen. Prinzing: "Bilder wie diese können auch die Kraft entwickeln, das Gewissen der Öffentlichkeit zu erschüttern und Diskussionen anzuheizen."

    Zeigen oder nicht? Nach Meinung der Redaktion ist bei den Bildern aus Butscha größte Zurückhaltung geboten.

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