Das hat mit dem Islam nichts zu tun!“ Ein oft gehörter Satz in diesen Tagen. Es gibt kaum eine Talkrunde im Fernsehen, kaum ein Gespräch mit Muslimen, kaum einen Kommentar in Zeitungen und Nachrichtensendungen, in denen er nicht auftaucht. Besonders gerne wird er von Funktionären der muslimischen Verbände als Argument dann angeführt, wenn (wieder einmal) Terroristen ihre Bombenattentate, Morde, Hinrichtungen unschuldiger Geiseln, Vergewaltigungen und andere Gräueltaten mit Hinweisen auf den Koran oder den Propheten Mohammed zu rechtfertigen suchen.
Der Islam sei eine Religion des Friedens und der Verständigung, heißt es. Die in Deutschland lebenden Muslime seien in ihrer weit überwiegenden Mehrheit friedlich, achteten die hier geltenden Gesetze und Werte, zeigten sich als gute Nachbarn, nette Arbeitskollegen und gastfreundliche Mitbürger. Welcher vernünftige Mensch will das bestreiten?
Und dennoch bleiben Fragen, drängende Fragen. Wenn die Terrormorde in Paris, der barbarische Überfall auf eine Schule in Pakistan mit mehr als 130 toten Kindern, das menschenverachtende Wüten der Kämpfer von IS und Boko Haram nichts mit dem Islam zu tun haben – warum dann können die Mörder und Bombenleger sich auf den Islam als ihre Religion berufen? „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“ ist da keine hinreichende Antwort.
Denn den Islam gibt es nicht. Wie in jeder Religion haben sich auch im Islam eine ganze Reihe von Gemeinschaften und Gruppen gebildet die sich mehr oder weniger stark voneinander abgrenzen oder sich gar feindlich gegenüberstehen. Bekanntes Beispiel auch in der westlichen Welt sind Sunniten und Schiiten. Sie streiten sich seit fast anderthalb Jahrtausenden erbittert darüber, wer die rechten Nachfolger des Propheten Mohammed sind.
Die Sunna bezeichnet die Tradition der islamischen Glaubens- und Sittenlehre als zweite Quelle religiöser Normen nach dem Koran. Damit verbunden ist die Anerkennung der sogenannten vier „Rechtgeleiteten Kalifen“, während die Schiiten nur den vierten Kalifen Ali als legitimen Nachfolger des Propheten anerkennen. Ali war zudem nicht nur Weggefährte des Propheten, sondern als Vetter blutsverwandt mit Mohammed und ihm als Schwiegersohn verbunden.
Allein der Nachfolgestreit hat nach UN-Angaben im vergangenen Jahr im Irak durch Selbstmordattentate und andere Anschläge zu mehr als 5300 Todesopfern geführt. Diese tödliche Verachtung selbst gegenüber Glaubensbrüdern sollte vor allem Muslime in aller Welt erschrecken. Die Unerbittlichkeit ist aber nicht zuletzt auf den Anspruch des Islam zurückzuführen, die Fehler und Irrtümer der beiden anderen monotheistischen Religionen in Thora und Bibel (Juden und Christen als Inhaber des Buches) ausgemerzt zu haben, und deshalb die einzig wahre Religion zu sein.
Da stellt sich in aller Schärfe die Frage nach dem Grundrecht der Religionsfreiheit. Bisher jedenfalls besteht dieses fundamentale Menschenrecht in islamischen Ländern nur als Einbahnstraße: Jeder kann und darf Muslim werden. Ein Abfall vom Glauben jedoch ist mit harten Sanktionen belegt, in einigen muslimischen Staaten sogar mit der Todesstrafe. Auch deshalb gehören nach einer Untersuchung des weltweit tätigen evangelikalen Hilfswerkes „Open Doors“ mit Ausnahme des kommunistischen Nordkorea ausschließlich islamische zu den 15 Staaten, in denen Christen unterdrückt, verfolgt und diskriminiert werden. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommen übrigens die katholische Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD).
Hier lebende Muslime wissen, dass sie ihre Religion frei leben können und dürfen. Auch in den islamischen Ländern muss das gelten. Zwar wurde zuletzt 1990 bei einer Tagung der OIC (Organisation der Islamischen Konferenz), der 56 muslimische Staaten angehören, die „Kairoer Deklaration der Menschenrechte im Islam“ verabschiedet, von dem folgenden Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter aber nicht ratifiziert. Diese und auch andere Erklärungen zeigen, dass Muslime die Menschenrechte, darunter die Religionsfreiheit, als normativ anerkennen. Doch heißt es auch immer wieder, dass im Konfliktfall die Scharia Vorrang habe.
Das darf auf Dauer nicht so bleiben. Die Forderung nach einem grundlegenden und im westlichen Kulturkreis hart erkämpften Menschenrecht ist nicht verhandelbar. Aber es wird vermutlich ein langer Weg bis zu einer Lösung. Doch besteht durchaus Hoffnung. Die Geschichte hat einen langen Atem: Nach mehreren Jahrhunderten hat selbst die fest gefügte katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil, das vor 50 Jahren endete, die Religionsfreiheit feierlich anerkannt.
Bewegung gibt es erfreulicherweise ja schon bei einem anderen großen und wichtigen Thema. Es ist beeindruckend und ermutigend, wie klar und eindeutig sich die muslimischen Verbände, die Moscheegemeinden und jeder einzelne Muslim als Demonstrant vor Zeitungshäusern und Fernseh- und Radioanstalten für die Meinungs- und Pressefreiheit eingesetzt haben. Damit haben sich etwa die Türken in Deutschland mutig und unmissverständlich vom Staatspräsidenten der Türkei und seinen Zensurmaßnahmen distanziert. Das sollte von allen Mitbürgern ebenso wie ihre einhellige Verurteilung von Terror und Gewalt dankbar registriert und anerkannt werden. So betrachtet ist der Satz „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“ falsch und kontraproduktiv, weil der die Terroristen und nicht die friedliebenden Menschen in den Vordergrund stellt.
Auf dieser Basis lässt sich das Zusammenleben mit Menschen aus aller Herren Ländern nicht nur in Deutschland weiter entwickeln und verbessern. Was die hier lebenden Muslime anbetrifft, sollten wir Deutsche sie nicht nur als Mitbürger, sondern als natürliche Verbündete gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus betrachten. Sie kennen doch aus eigener Anschauung die freiheitliche Demokratie und nehmen ihre Errungenschaften und Vorzüge gerne in Anspruch. Sie könnten in ihren Heimatländern Vorurteile abbauen und Vertrauen gewinnen.
Vielleicht ist das zu hoch gegriffen und bleibt eine Utopie. Aber gerade in Deutschland sollten wir optimistisch sein. Galt nicht vor 25 Jahren die Vereinigung unseres Landes als die große Utopie, an die keiner mehr glauben wollte?