Der Lkw-Fahrer, der Sophia Lösche mit einem Radschlüssel erschlug, ist überführt und verurteilt. Über Boujeema L. verhängte das Landgericht Bayreuth im September 2019 eine lebenslange Freiheitsstrafe. „Der Mann interessiert mich null“, sagt Andreas Lösche. Aber abschließen mit dem Mord an seiner Schwester kann der bei Bamberg lebende Familienvater nicht. „Dafür sind einfach noch zu viele Fragen offen.“ Was Lösche nüchtern Fragen nennt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Vorwürfe. Gerichtet sind sie an die Polizei.
Zwei Jahre nach der Ermordung Sophia Lösches stellte sich die Polizei jetzt den als Fragen getarnten Vorwürfen der Familie Lösche. Bei einem persönlichen Treffen Anfang April in Nürnberg präsentierte eine vom bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU) beauftragte Kommission Andreas Lösche und seinen Eltern ihre Ergebnisse. Am Dienstag berichtete darüber auch die ZDF-Sendung „Frontal 21“.
Keine angemessene Unterstützung
Zuvor hatten sich Kriminalbeamte aus Bayern und Sachsen über die Ermittlungsakten und den internen Schriftverkehr gebeugt. „Es ging uns vor allem darum, zu lernen“, sagte Holger Baumbach gestern. Der Kriminaldirektor aus Unterfranken gehörte der polizeilichen Expertenkommission an.
Rückblick: Am 14. Juni 2018 beabsichtigte Sophia Lösche von Leipzig, wo sie studierte, nach Amberg zu trampen. Dort leben ihre Eltern, dort wollte ihr Vater am Tag darauf seinen Geburtstag feiern. Dort aber kam die 28-Jährige nie an. Eine Woche später wurde ihr Leichnam im Norden Spaniens entdeckt.
- Lesen Sie auch: Tod einer Tramperin: Der Fall Sophia Lösche
Ihre Angehörigen und Freunde fühlten sich von Beginn an weder ernst genommen noch unterstützt. Nicht von den Beamten in Amberg und auch nicht von denen in Leipzig. Hinweise auf ein Gewaltverbrechen seien abgewiegelt worden, wertvolle Zeit auf diese Weise verloren gegangen.
Andreas Lösche und die Freunde seiner Schwester waren es selbst, die nach Sophia suchten. Sie waren es selbst, die anhand von Videoaufzeichnungen dem Mörder auf die Schliche kamen. Sie waren es, die Boujeema L. telefonisch mit dem Verschwinden Sophias konfrontierten. Sie mussten es tun, weil die Polizei ihre Pflicht versäumte.
So sieht das Andreas Lösche – bis heute. „Ich gestehe Herrn Lösche diese Sichtweise natürlich zu“, sagt Baumbach. Sie inhaltlich teilen will der Kriminaldirektor jedoch ausdrücklich nicht. Mit Bedacht spricht Baumbach deshalb auch nicht von „Fehlern“. Er behilft sich stattdessen mit der Formulierung von den „Vorgängen, die nicht optimal gelaufen sind“. Den ermittelnden Beamten bescheinigt Baumbach, im Einklang mit den Vorschriften gehandelt zu haben. Nur sei es ihnen nicht immer gelungen, den Erkenntnisstand der Angehörigen „1:1 in die polizeiliche Lageentwicklung“ einzuspeisen: „Wir müssen künftig besser zuhören.“
Dieses Argumentationsmuster zieht sich als roter Faden durch den Bericht: Einzelne Versäumnisse räumt die Kommission selbstkritisch ein. Auch die nicht mit der nötigen Sorgfalt gepflegten Dienstprotokolle moniert Baumbach: „Das hat die Zusammenarbeit der Dienststellen erschwert.“
Dass die Summe aus vielen kleinen Nachlässigkeiten die Ermittlungen in ihrer Gesamtheit beschädigt haben könnten, stellt die Kommission aber in Abrede. Dementsprechend kleinteilig fallen ihre Handlungsempfehlungen auf den ersten Blick auch aus. Bei der Fort- und Weiterbildung soll ein stärkeres Augenmerk auf den wertschätzenden Umgang mit Angehörigen gelegt werden. Darüber hinaus soll eine Arbeitsgruppe untersuchen, wie sich bei länderübergreifenden Vermisstenfällen Reibungsverluste minimieren lassen.
„Die Vorschläge gehen in die richtige Richtung“, sagt Andreas Lösche. Anders als Baumbach scheut er sich nicht, das Wort „Fehler“ in den Mund zu nehmen: „Die Polizei hat zu spät gehandelt. Das ist Fakt und ich nenne das einen Fehler.“
Am Rollen von Köpfen haben er und seine Eltern kein Interesse. Sie erinnern sich an Sophia als eine selbstlose junge Frau. Diesem Charakterzug fühlen sie sich verpflichtet. „Was unserer Familie passiert ist, darf keiner anderen mehr passieren“, sagt Lösche. Wer einen Menschen als vermisst meldet, soll künftig auf „Empathie und polizeilichen Arbeitswillen“ zählen können.
Wann genau starb Sophia?
Lösches weiterhin nicht vollständig ausgeräumte Vorwürfe türmen sich zu einer letzten ungeheuerlichen Frage: Hätte die Polizei das Leben von Sophia Lösche retten können? Nein, beschied das Bayreuther Gericht. Nein, sagt auch Holger Baumbach: „Sophia Lösche starb am Tag ihres Verschwindens.“ Vielleicht erlaubte es auch erst diese Grundannahme der Kommission, die „nicht optimal gelaufenen“ Ermittlungsschritte in ihrer Bedeutung gering zu schätzen. Andreas Lösche rechnet anders: „Alle Indizien sprechen dafür, dass Sophia erst zwei Tage später starb.“ Hätte seine Schwester gerettet werden können? „Ja, vielleicht.“ Die Antwort darauf kennt allein Sophias Mörder. Ob Boujeema L. sie eines Tages geben wird, glaubt Andreas Lösche nicht.