Herr Streeck, wann haben Sie Ihren letzten Corona-Test gemacht?
HENDRIK STREECK: Ich kann mich nicht wirklich daran erinnern. Ich denke, das war als ich mich das letzte Mal krank gefühlt habe. Oder mit dem Ende der Testverordnung im Februar 2023? Ich kann leider nicht mehr genau sagen, wann das war.
Im vergangenen Jahr wurden die Tests in jedem Supermarkt verkauft. Inzwischen haben viele Menschen Corona fast verdrängt. Wird sich das mit der kalten Jahreszeit ändern?
STREECK: Ich rechne damit, dass wir im Herbst und Winter einen Anstieg der Corona-Fallzahlen erleben werden. Das Coronavirus hat sich eingereiht zu all den anderen grippalen Infekten, die wir aus dieser Jahreszeit kennen. Wenn wieder vermehrt Husten und Schnupfen auftritt, sind das nicht nur die anderen Erkältungsviren, sondern das ist auch das Coronavirus. Das ist aber nicht besorgniserregend. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir eine enorm hohe Grundimmunität gegen das Coronavirus in der Bevölkerung haben. Die bietet immer einen guten Schutz gegen einen schweren Verlauf, und seit der Omikron-Variante sind die Verläufe sowieso milder. Die Frage ist, wie viel Aufmerksamkeit wir welchem Erreger schenken wollen. Und da beobachte ich mit einer gewissen Sorge, dass wir dem Coronavirus immer noch eine Sonderstellung einräumen.
Warum besorgt Sie das?
STREECK: Es geht im Herbst und Winter für mich nicht nur um Corona. Eine Erkrankung, die von vielen unterschätzt wird, ist die Grippe, also die Influenza. Es hat sich eine Einstellung breitgemacht: Wenn es nicht Corona ist, dann ist alles in Ordnung. Ich würde Personen, die einer Risikogruppe angehören, nicht nur zu einer Corona-Auffrischimpfung, sondern auch einer Grippeimpfung raten. Es gibt mehr Viren als nur das Coronavirus.
Viele haben sich zwar gegen Corona impfen lassen, es damit dann aber gut sein lassen …
STREECK: Die Grippe war in den vergangenen Jahren weitgehend verschwunden, die typischen Grippewellen sind fast ganz ausgeblieben. Wir können nicht vorhersagen, was sich in diesem Winter durchsetzen wird. Deshalb sollte sich jeder, der Teil einer Risikogruppe ist, vorbereiten.
Rechnen Sie mit einer Grippewelle?
STREECK: Das ist ein unmöglicher Blick in die Glaskugel. Normalerweise kommt die Grippewelle meist erst im Januar, Februar. In den Monaten davor sehen wir vereinzelt Fälle, dann lässt sich eher sagen, womit wir rechnen müssen. Aber selbst, wenn wir jetzt noch keine Vorhersage treffen können, ist es gut, mit dem Hausarzt zu sprechen und sich gegebenenfalls eine Grippeschutzimpfung verabreichen zu lassen. Sie wird allen Risikopatienten angeraten. Eine Grippeimpfung ist aber auch empfehlenswert, wenn man mit vielen Menschen oder kranken Menschen Kontakt hat. Zum Beispiel im Krankenhaus.
Wie sieht es mit der Corona-Impfung aus?
STREECK: Gesunde und junge Menschen brauchen keine Auffrischimpfung, sie wird nur für Personen empfohlen, die einer Risikogruppe angehören. Wichtig ist auch: Zwischen den Antigenkontakten sollten mindestens 12 Monate Abstand liegen. Das bedeutet, wenn man im Frühjahr eine Corona-Erkrankung hatte, muss man sich jetzt im Herbst nicht impfen lassen. Die Infektion wirkt wie ein Booster. Viel hilft hier nicht unbedingt viel.

Muss ich mich als gesunder Mensch nie mehr gegen Corona impfen lassen?
STREECK: Wenn das Coronavirus sich nicht grundlegend ändert und sich weiter in dem Grundkorsett der Omikron-Varianten bewegt, wird eine Auffrischungsimpfung für gesunde Menschen nicht mehr notwendig sein. Würde sich das Virus hingegen sehr stark verändern, also vom Immunsystem gar nicht mehr erkannt, müsste man über eine Auffrischung nachdenken. Aber um das mal deutlich zu sagen, das ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern wir sprechen dann im Grunde von einem neuen Virus.
Es gibt eine neue Corona-Variante. In der Vergangenheit verhieß das selten etwas Gutes. Warum bleiben Sie diesmal gelassen?
STREECK: Zum einen wurde früher vieles in neue Corona-Varianten hineininterpretiert, was den Fakten nicht unbedingt standgehalten hat. Zum anderen handelt es sich bei allen neuen Varianten, die wir derzeit sehen, um Subvarianten von Omikron. Und Omikron bleibt Omikron. Ich halte von dieser Fokussierung auf Varianten aber ohnehin wenig. Wir haben derzeit eine Variantensuppe. Das ist wissenschaftlich interessant, hat aber keine praktische Relevanz.
Sie waren jüngst in einer TV-Doku zu sehen, als „Virenjäger“. Wie groß ist die Gefahr von neuen Pandemien?
STREECK: Das Problem ist, dass eine Pandemie-Vorhersage schlicht nicht möglich ist. Wir wissen sehr wenig über unbekannte Viren. Es ist klar, dass sie in vielen Tieren schlummern und von ihnen eine potenzielle Gefahr ausgehen könnte – aber nicht, welche. Darum können wir uns sehr schwer darauf vorbereiten. Was wir machen können, ist, gegen Viren, die bereits bekannt sind, Impfstoffe und Therapien zu entwickeln. Um schnell reagieren zu können, brauchen wir zudem ein Monitoring, mit dem neue Viren registriert werden.
Haben wir durch Corona gelernt für künftige Pandemien?
STREECK: Ja und nein. Auf der einen Seite haben wir nun ein viel größeres Augenmerk darauf, dass wir durch gutes Monitoring und Therapieentwicklungen Pandemien in Zukunft verhindern wollen. Gut ist auch, dass es mehr Forschung gibt. Auf der anderen Seite fehlt eine Aufarbeitung, um zu wissen, wie man als Gesellschaft und Staat in Zukunft besser reagiert. Dieser Prozess der Aufarbeitung ist für die Gesellschaft wichtig, weil es zeigt, dass wir aus Fehlern lernen können. Wir brauchen diese Fehlerkultur. Es ist ein Lernprozess und nicht die Anklage einzelner Entscheidungen. Leider habe ich nicht den Eindruck, dass wir einen solchen Aufarbeitungsprozess haben werden. Auch wenn es nicht um individuelle Fehlentscheidungen, sondern um gesellschaftliche und strukturelle Fragen gehen soll, scheinen einige hier Sorgen zu haben.
Sie waren während der Pandemie sehr präsent in den Medien. Wie war das für Sie als Wissenschaftler?
STREECK: Ich bin da mit der Zeit reingewachsen. Dafür gibt es kein Training, kein jahrelanges Vorbereiten. Es war eine spannende Erfahrung. Es gab Situationen, bei denen ich glaube, dass ich es ganz gut gemacht habe, andere, in denen ich künftig anders handeln würde. Auch für mich war die Corona-Pandemie ein Lernprozess.
Viele Debatten in der Pandemie waren hochemotional. Als Wissenschaftler ist man es gewohnt, sich an Fakten, an Maße, an objektiven Größen zu orientieren.
STREECK: Was mich eher überrascht hat, war, dass es auch in der Wissenschaft von manchen nicht geduldet wurde, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt. Dabei ist das absolut üblich. Es hat sich bisweilen die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nur den einen richtigen Weg gebe. Aber ein Psychologe hat nun einmal eine andere Sicht auf die Dinge als ein Virologe. Ich würde mir wünschen, dass man künftig mehr Stimmen zulässt in den Debatten.
Zur Person
Hendrick Streeck, 46, ist Direktor des Institutes für Virologie am Universitätsklinikum Bonn und Mitglied des Corona-Expertenrates der Bundesregierung.