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Frankreich: Alles was rechts ist: Wie Marine Le Pen ein kleines Städtchen für sich gewann

Frankreich

Alles was rechts ist: Wie Marine Le Pen ein kleines Städtchen für sich gewann

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    Umgeben von Fans: Marine Le Pen besuchte im Jahr 2022 Villers-Cotterêts, stolz empfangen vom Bürgermeister Franck Briffaut (mit Schärpe).
    Umgeben von Fans: Marine Le Pen besuchte im Jahr 2022 Villers-Cotterêts, stolz empfangen vom Bürgermeister Franck Briffaut (mit Schärpe). Foto: Hans Lucas, afp

    Sylvain und seine Freunde verdrücken sich vor der Sonne ins Innere ihres Stammlokals. Selbst im Schatten unter der roten Markise der Bar im nordfranzösischen Örtchen Villers-Cotterêts ist es ihnen zu warm. „Wir erleben heiße Zeiten in Frankreich“, witzeln sie in Anspielung auf die anstehenden Neuwahlen. Für den Abend haben sie sich verabredet, um hier gemeinsam fernzusehen, aber einschalten werden sie nicht etwa das EM-Spiel Frankreich gegen Polen. „Mich interessiert die politische TV-Debatte“, sagt Sylvain, Ende 50, mit schmaler Brille, einer Kappe auf dem Kopf und freundlichem Lächeln. „Ich will nochmal genau hören, was Bardella zur Rentenreform sagt.“

    Hausmeister Sylvain - hier vor seiner Lieblingsbar - ist ein entspannter Typ. Doch geht es um Emmanuel Macron, redet er sich in Rage.
    Hausmeister Sylvain - hier vor seiner Lieblingsbar - ist ein entspannter Typ. Doch geht es um Emmanuel Macron, redet er sich in Rage. Foto: Birgit Holzer

    Vier große Fernsehdiskussionen finden vor den beiden Runden der Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli statt; an jeder nehmen der Chef des rechtsextremen Rassemblement National (RN), Jordan Bardella, und Premierminister Gabriel Attal für das Regierungslager teil, während die Vertreter des linken Bündnisses Neue Volksfront wechseln. Es geht um die Fragen, die die Menschen besonders umtreiben: Kaufkraft, Einwanderung, das Kranken- und das Schulsystem. Und um die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron, mit der vor gut einem Jahr das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre hinaufgesetzt wurde, trotz monatelanger Proteste und ohne Zustimmung des Parlaments. Vielleicht war das der Moment, an dem es endgültig zum Bruch zwischen Macron und weiten Teilen der Bevölkerung kam. Viele haben ihm nicht verziehen, obwohl er die Maßnahme im Wahlkampf angekündigt hatte. Auch Sylvain nicht, der als RN-Wähler par excellence angesehen werden kann; als einer der Enttäuschten eines System, dem er nicht mehr vertraut.

    Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 stimmten 49,8 Prozent für Marine Le Pen

    Bei der Europawahl vor knapp drei Wochen stürzte Macrons Partei ab, der RN triumphierte auf dem ersten Platz. Spontan rief der Präsident Neuwahlen aus. Seitdem ist ein Kampf um die Macht im Land entbrannt. Genauer gesagt: um eine absolute Mehrheit der 577 Sitze in der Nationalversammlung. Wer sie erreicht, stellt den nächsten Premierminister und die Regierung. Wird sie von allen Parteien und Bündnissen verfehlt, und darauf deuten Umfragen momentan hin, drohen zähe Verhandlungen, vielleicht auch eine Blockadesituation.

    Wie in den meisten Bezirken im Département Hauts-de-France, das nördlich von Paris beginnt und bis nach Calais am Ärmelkanal verläuft, hat auch im Wahlkreis von Villers-Cotterêts der rechtsextreme RN gute Aussichten. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 stimmten 49,8 Prozent für Marine Le Pen, 2022 waren es 56 Prozent. Dabei wirkt das gut 10.000 Einwohner zählende Städtchen keineswegs wie eine jener tristen, von der globalisierten Welt abgeschnittenen Ortschaften, die in den vergangenen Jahren zu RN-Hochburgen wurden. Herausgeputzte Häuschen, viele aus Backstein, reihen sich aneinander. Es gibt Cafés, kleine Läden, einen Metzger, einen Bäcker. Am Rande des zentralen Platzes erinnert eine Statue an den berühmten Sohn der Stadt, den Schriftsteller Alexandre Dumas.

    Die Französin Marine hat Angst vor allen Extremen in der Politik.
    Die Französin Marine hat Angst vor allen Extremen in der Politik. Foto: Birgit Holzer

    Seit der überraschenden Ankündigung von Neuwahlen sei sie beunruhigt, sagt Marine Cagan, die auf dem Marktplatz eine Zigarettenpause macht. „Mir machen beide Extreme Angst. Aber nochmals Macron wählen?“ Die junge Frau blickt ratlos drein. Sie lebt nicht in Villers-Cotterêts, aber arbeitet hier in einer Bank. Eine angenehme Kleinstadt, die sich gut entwickelt habe, findet sie. Aber sie wisse um die Einstellung vieler Menschen, eine Art Genug-ist-genug-Haltung, die sich gegen die Regierenden in Paris richtet. Gegen die ferne Elite.

    Bereits seit 2014 wird die Stadt vom rechtsextremen Bürgermeister Franck Briffaut regiert. Er gehört zu jenen Lokalpolitikern, mit denen die Partei beweisen will, dass sie regierungsfähig ist. Doch landesweit bekannt ist Briffaut nicht, machte nur zu Beginn seiner Amtszeit Schlagzeilen, als er die Organisation einer Zeremonie zum Gedenken an die Abschaffung der Sklaverei verweigerte und städtische Zahlungen für eine Menschenrechtsorganisation und die linksgerichtete Gewerkschaft CGT stoppte. Davon abgesehen sagte er einmal, 90 Prozent seiner Arbeit als Rathauschef sei unpolitisch. „Wir sind zufrieden mit ihm“, sagt Barbesucher Sylvain.

    Einer sagt: Partei von Le Pen ist nicht rassistisch

    Doch trotz des Erscheinungsbildes einer Mittelklasse-Stadt liegen die Armut und die Arbeitslosigkeit vor allem unter jungen Leute hier über dem Landesdurchschnitt. Dabei gibt es mit einem Volkswagen-Werk und dem Pariser Flughafen Charles-de-Gaulle, der nur eine halbe Autostunde entfernt ist, große Arbeitgeber. „Wir sind viele Geringverdiener, die sehen, dass die Rechnungen steigen, aber nicht ihre Gehälter“, sagt Sylvain. „Deshalb wählen die Leute Front National.“ Unbewusst benutzt er den früheren Parteinamen, den Frontfrau Le Pen 2018 ändern ließ. Rassemblement, „Zusammenschluss“, klingt weniger martialisch als „Front“. Das passt zur Strategie der Normalisierung der Rechtsaußen-Partei. Diese sei nicht rassistisch, betont Sylvain. Der Beweis: Marine Le Pen ließ sogar ihren eigenen Vater, den langjährigen Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen, ausschließen, der mehrfach wegen Aufstachelung zum Rassenhass und Verharmlosung des Holocaust verurteilt worden war. Antisemitismus sei nicht in Ordnung, findet Sylvain. Ausländer in Frankreich hätten sich aber zu „assimilieren“.

    Das fordert auch der RN, ebenso wie eine Eindämmung der Einwanderung und die Abschaffung jeglicher medizinischer Nothilfe für Menschen, die illegal im Land sind, neuerdings auch Arbeitseinschränkungen für alle mit doppelter Staatsbürgerschaft: Wer an „strategischen Posten des Staates“ tätig ist, dürfte demnach nur die französische Nationalität haben. Zugleich konzentriert sich die Partei stark auf soziale Themen, ruderte allerdings bei mehreren Vorschlägen zurück, seit die Macht in Greifweite gerückt ist. Macrons Rentenreform will Parteichef Bardella nicht mehr komplett rückgängig machen. Aber all jene, die vor ihrem 20. Lebensjahr ins Berufsleben eingestiegen sind, sollen mit 60 in den Ruhestand gehen dürfen. „Darauf hoffe ich sehr“, sagt Sylvain. Er selbst habe dreimal gegen die Reform gestreikt. Öfter konnte er nicht, denn er verlor jedes Mal ein Tagesgehalt. Für seine Arbeit in einem Internat, wo er die Waschräume, die Toiletten und die Küche reinigt, bekommt er den Mindestlohn, 1400 Euro monatlich plus eine Prämie für lange Betriebszugehörigkeit. Viel zu wenig, klagt er. „Ab dem 16. eines Monats bleibt mir nichts.“ 

    Milliardenschwere Entscheidungen der Regierung zur Entlastung der Haushalte, die Frankreichs hohen Schuldenberg mit erklären, wie die Hilfen während der Corona-Pandemie oder die Deckelung der Energiepreise von Herbst 2021 bis Dezember 2023, seien doch nur „Maßnähmchen“ gewesen. Als junger Mann konnte er sich von seinem Gehalt ein Auto kaufen. Daran sei heute nicht zu denken. Er sei ledig, kinderlos, zu seinen kleinen Freuden gehörten ab und zu eine Zigarette und ein Gläschen mit seinen Freunden. Einer von ihnen raunt ihm beim Gehen zu, dass die Rechnung schon bezahlt sei. „Danke, Kumpel!“, ruft Sylvain ihm nach.

    Warum er glaubt, dass die Rechtsextremen sein Leben verbessern könnten und nicht etwa die Linken, die hier historisch stark waren, eine Erhöhung des Mindestlohns und eine Rückkehr zur Rente mit 60 versprechen? Eine präzise Antwort hat Sylvain darauf nicht. In erster Linie wünscht er sich, dass der Präsident vorzeitig aus dem Amt gejagt wird. „Ich hasse Macron. Er ist ein Neoliberaler, der Politik für die Reichen macht.“ Er redet sich so in Rage, dass er rote Flecken in seinem Gesicht bekommt.

    Macrons Museum lockt Zehntausende in die kleine Stadt

    Der Zorn auf den Präsidenten ist in Frankreich weit verbreitet. Nur noch 27 Prozent der Menschen haben ein positives Bild von ihm. Das Phänomen ist nicht neu: Macrons Vorgänger François Hollande und Nicolas Sarkozy waren während ihrer Amtszeit noch unbeliebter; heute werden sie wieder gemocht. Hollande kandidiert nun sogar für die Neue Volksfront bei den Parlamentswahlen – mit guten Chancen.

    Gerade in Villers-Cotterêts erscheinen die heftigen Gefühle gegen den amtierenden Staatschef paradox. Denn das Städtchen profitierte sehr von einem Herzensprojekt Macrons, für das er sich persönlich eingesetzt hatte. Im vergangenen Oktober eröffnete er eine Art Museum für die Frankophonie, die „Internationale Stadt der französischen Sprache“ im prächtig renovierten Stadtschloss, dem bis dahin der Verfall drohte. Dort hatte Monarch François I. im Jahr 1539 ein Dekret unterzeichnet, das Französisch zur offiziellen Sprache des Königreichs Frankreich machte. Mehr als 210 Millionen Euro investierte der Staat, um Besucher nach Villers-Cotterêts zu locken. Bürgermeister Briffaut, wenn auch politisch von einem ganz anderen Ufer als Macron, unterstützte das Projekt. Er setzte sich sogar dafür ein, dass alle Informationen auch auf Deutsch abrufbar sind. Die Dauerausstellung ist interaktiv und abwechslungsreich gestaltet, hinzu kommen Sonderschauen. Wer mit dem Zug aus Paris anreist, erhält einen Sonderpreis für die Fahrt und den Eintritt. Die Statistiken des örtlichen Tourismusbüros belegen den Erfolg des neuen Angebots: Innerhalb eines Jahres stieg die Zahl der Besuchergruppen um 81 Prozent und der Umsatz legte um 89 Prozent zu. Ging man von 200.000 Besuchern pro Jahr aus, so wurden seit November bereits 180.000 Tickets verkauft.

    Café-Mitarbeiterin Marion profitiert von der Touristen-Attraktion.
    Café-Mitarbeiterin Marion profitiert von der Touristen-Attraktion. Foto: Birgit Holzer

    „Wir spüren ganz klar die positiven Auswirkungen, es kommen viel mehr Gäste als vorher“, sagt Marion, die in einem Café arbeitet. „Allein heute habe ich 17 Mahlzeiten für eine Gruppe zum Schloss geliefert.“ Eine neue Crêperie mache demnächst auf, das Stadtleben werde dynamischer. Ob der Ort das dem Präsidenten zu verdanken hat? Die junge Frau lacht und zuckt die Schultern. „Das kann sein, ich gehe nicht wählen, Politik interessiert mich nicht!“ 61 Prozent der Wahlberechtigten machten es bei den letzten Parlamentswahlen in Villers-Cotterêts genauso, gaben keine Stimme ab. Gewonnen hat sie der RN-Kandidat Jocelyn Dessigny, dessen Chancen auch jetzt gut stehen. So gut, dass er nicht einmal Wahlwerbung braucht. Am Bahnhof hängen lediglich drei einsame Plakate des linken Kandidaten. Sie sehen aus, als habe sie jemand dort vergessen; so als sei alles schon entschieden, und zwar für die extrem Rechten, die hier für viele Menschen längst gar nicht mehr als extrem gelten.

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