Nach der ersten Runde der Parlamentswahlen beginnen in Frankreich die Rechenspiele. Lässt es sich noch verhindern, dass der Rassemblement National (RN) beim zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreicht? Mit 33 Prozent lagen die Rechtsextremen erwartungsgemäß auf dem ersten Platz. Damit haben sie ihr Ergebnis seit den letzten Parlamentswahlen 2022 fast verdoppelt. Die Partei punktete besonders in ihrer Stammwählerschaft unter Arbeitern und Menschen ohne höheren Bildungsabschluss. Sie konnte aber auch anderswo mehr Stimmen gewinnen, etwa bei Menschen unter 35 Jahren. Das Linksbündnis Neue Volksfront erreichte 28 Prozent, das Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron knapp 22 Prozent.
Nur in 74 Bezirken qualifizierten sich Bewerber bereits in der ersten Runde, unter ihnen 38 Politiker des RN und dessen Frontfrau Marine Le Pen. In den meisten der übrigen 503 Wahlkreisen treten mindestens drei Kandidaten gegeneinander an.
Frankreich: Die zweite Wahlrunde ist entscheidend
Wie umfassend der Triumph für Le Pens Partei wird, hängt daher maßgeblich davon ab, wie dicht die Brandmauer der anderen Parteien wird: Um sich nicht gegenseitig Stimmen wegzunehmen und dem RN damit lokal zum Sieg zu verhelfen, gibt es Überlegungen der anderen Parteien, überall dort, wo man auf dem dritten Platz gelandet ist, zugunsten der Kandidaten zurückzutreten, der den RN schlagen kann. Der 28-jährige RN-Parteichef Bardella hat angekündigt, nur Premierminister werden zu wollen, falls er über eine absolute Mehrheit verfügt. Prognosen sagen seinem Lager 230 bis 280 Sitze voraus, nötig wären 289. Während die Linken mit 125 bis 200 Sitzen rechnen könnten, dürfte es für das Regierungslager nur noch für 60 bis 100 reichen. Offen ist die Frage, wie Macron weiterhin regieren will.
Deutschland und Europa haben Sorge, dass Frankreich unzuverlässiger werden würde. Zwar hat Macron als Präsident in der Außenpolitik die Oberhand. Mit dem rechtsnationalen Parteichef Jordan Bardella als Premier dürfte er seine Linie aber kaum ungehindert fortsetzen können. Das RN gibt wenig auf die enge Zusammenarbeit mit Berlin und steht Brüssel kritisch gegenüber.
Sollte die gemeinsame Front einen Durchmarsch der Rechten tatsächlich abwenden und keines der Lager eine absolute Mehrheit erlangen, stünde Frankreich vor zähen Koalitionsverhandlungen. Wird keine Lösung gefunden, dürfte dem Land politischer Stillstand drohen.
Werden die anderen Parteien Kandidaten zurückziehen?
Am Dienstagabend um 18 Uhr müssen alle Kandidaten für die zweite Runde der Wahl feststehen. Bis dahin wird noch gefeilscht, verhandelt und debattiert. Die konservativen Republikaner, die zehn Prozent erhielten, lehnten eine „republikanische Front“ gegen die Rechtsextremen bereits ab – anders als die Linken. Der frühere sozialistische Präsident François Hollande hatte sogar seine Kandidatur mit dem notwendigen Kampf gegen den RN begründet. Selbst Jean-Luc Mélenchon, Führungsfigur der Linkspartei LFI (La France Insoumise, „Das unbeugsame Frankreich“), kündigte an, dass sich die linken Kandidaten überall dort, wo sie nur drittplatziert sind, zurückziehen werden. „Keine Stimme, kein Sitz mehr für den RN“, tönte er, der sich sonst gegenüber politischen Gegnern wenig kulant zeigt.
Das Regierungslager ist nicht so eindeutig in seiner Haltung – auch aufgrund der streitbaren Persönlichkeit Mélenchons. Dem 72-Jährigen wird Antisemitismus vorgeworfen, da sich seine Partei seit dem Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober weigerte, diese klar als Terror-Organisation einzustufen. Mehrere Persönlichkeiten aus Macrons Umfeld sprachen sich deshalb auch dafür aus, dass sich ihre Kandidaten in den Wahlkreisen, in denen sie zurückliegen, zugunsten von Sozialisten, Grünen und Kommunisten zurückziehen – nicht aber für die Linkspartei LFI. „Für mich ist LFI eine Gefahr für die Nation“, sagte Wirtschaftsminister Bruno Le Maire. Die Partei sei antisemitisch und schaffe Parallelgesellschaften. Zudem traten mehrere LFI-Abgeordnete regelmäßig lärmend und aufrührerisch im Parlament auf.
Wie angespannt die Stimmung ist, zeigte ein Interview der französischen Grünen-Chefin Marine Tondelier. Zu Le Maires Haltung befragt, kamen ihr fast die Tränen. Sie sei „niedergeschmettert und extrem wütend“ auf den Minister, der sich „wie ein Feigling und Privilegierter“ benehme. LFI könne nicht mehr die absolute Mehrheit erreichen, RN schon. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 hätten etliche Linkswähler für Macron gestimmt, um Marine Le Pen zu verhindern. „Zum Glück sind unsere Wähler weniger feige“, sagte Tondelier. Zumindest Premierminister Gabriel Attal sei etwas eindeutiger, sagte sie. Dieser hatte dazu aufgerufen, „alles zu tun, um das Schlimmste zu verhindern“; doch auch er sprach nur von einem Rückzug der eigenen Kandidaten zugunsten all jener, „die die Republik verteidigen“. Ähnlich hatte es zuvor Macron in einer schriftlichen Erklärung formuliert. Ob die Linken dazu gehören, blieb unklar.