Herr Wagner, die rechtsextreme Thüringer AfD unter Björn Höcke kommt, je nach Umfrage, für die Landtagswahl in diesem Jahr auf Werte zwischen 34 und 37 Prozent. Wie kann das noch weitergehen?
JENS-CHRISTIAN WAGNER: Wenn man von 37 Prozent ausgeht und die Parteien abzieht, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern – das könnten theoretisch nächstes Jahr die Grünen und die FDP sein –, dann ist man schon ganz dicht an der absoluten Mehrheit, und das muss uns riesige Sorgen machen. Aber selbst wenn es "nur" 33 Prozent der Sitze im Thüringer Landtag wären, hätte die AfD eine Sperrminorität in vielerlei Hinsicht, etwa was Verfassungsänderungen anbelangt oder Ernennung von Richtern.
Wie würde sich das auf die Gedenkstättenarbeit auswirken?
WAGNER: Es ist Alarmstufe Rot, auch für uns. Nicht nur, weil wir es seit Monaten mit einer Welle von Übergriffen auf die Gedenkstättenarbeit zu tun haben, sondern auch, weil wir wissen, dass die AfD das gesellschaftliche Klima geschaffen hat, in dem diese Schmierereien, abgesägte Gedenkbäume und dergleichen, stattfinden. Wir haben weltweit eine Verschiebung der Diskurse, einen Rechtsruck, aber in Deutschland ist die Relevanz einer solchen Verschiebung noch einmal eine ganz andere als in einem Land, das keine faschistische Vergangenheit hat.

Alarmstufe Rot auch deshalb, weil die Finanzierung der Gedenkstätten Ländersache ist?
WAGNER: Auch, ja, aber das macht mir tatsächlich nicht die allermeisten Sorgen. Sondern, dass wir es mit einer autoritären, demokratiefeindlichen und in Thüringen besonders radikalen Partei zu tun haben, die möglicherweise ab September eine wie auch immer geartete Regierungsverantwortung in Thüringen hat. Der Einfluss auf unsere Arbeit könnte dann über Geld gehen, das kann aber auch über die Gremien gehen. Unser Stiftungsratsvorsitzender etwa ist der für Kultur zuständige Minister. Im Szenario der wie auch immer gearteten Regierungsverantwortung wäre das im Bad Case ein Minister, der von Gnaden der AfD regiert, und im Worst Case ein Minister, der von der AfD kommt.
In der öffentlichen Debatte werden die AfD und der Rechtsruck gerne als Problem der östlichen Bundesländer gesehen.
WAGNER: Ich glaube, dass die DDR-Prägung eine große Rolle spielt: In ihrer eigenen Wahrnehmung standen sie entweder auf der Seite der Sieger oder der Opfer, jedenfalls nicht auf der Seite der Täter. Deswegen hieß auch die allererste Ausstellung, die 1966 in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora eröffnet wurde, "Die Blutspur führt nach Bonn". Dieses Narrativ hat natürlich dazu beigetragen, dass es in der früheren DDR keine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beziehungsweise der eigenen Mitverantwortung gegeben hat. Damit möchte ich den Westen überhaupt nicht reinwaschen: Da hat es keine ansatzweise ausreichende justizielle Auseinandersetzung gegeben, bis in die 80er-Jahre hinein hat man sich mit Schuldabwehr hervorgetan, auch mit Geschichtsrevisionismus. Aber es gab diesen gesellschaftlichen, soziokulturellen Schnitt mit der Studentenbewegung 1968. Das hat zu einer umfassenden Liberalisierung geführt, und diese Liberalisierung wurde dann dem Osten 1990 sozusagen aufgestülpt. Das hat Abwehrreflexe freigesetzt, die merken wir jetzt sehr stark.
Warum drückt sich das dann als Zuspruch für die AfD aus?
WAGNER: Auf komplexe politische Phänomene reagieren Menschen, indem sie sich in einfache Antworten flüchten, und die AfD gibt sehr vereinfachte Antworten. Beispielsweise die Klimakrise: "Die gibt es nicht." Damit hat man das schon mal weggewischt und kann weitermachen. Migration? "Alle abschieben", damit wir wieder ein "homogenes Volk" sind. Auch beim Gendern ist das so. Es ist im Grunde ein Kulturkampf, der da ausgetragen wird, der teilweise absurd ist: Von rechts wird den urbanen "Eliten" vorgeworfen, dass da eine Verbotspolitik betrieben wird. Real gibt es das, aber eben von rechts: Wenn jetzt auf einmal eine schwarz-rote Koalition in Hessen als einen ihrer ganz großen Punkte – als wäre das unser größtes Problem – in den Koalitionsvertrag schreibt, ein Genderverbot durchsetzen zu wollen, dann kann man sich tatsächlich nur an den Kopf fassen. Das haben wir ja auch bei allen Wahlen gesehen: Wenn ihre Themen von demokratischen Parteien aufgegriffen werden, stärkt das die AfD nur noch mehr. Weil jeder weiß, dass die Leute das Original wählen.
2013 war Höcke ein Mitbegründer des Thüringer AfD-Landesverbandes, war also von Beginn an der rechtsextremen Unterwanderung der damals noch einigermaßen gemäßigt konservativen Partei beteiligt.
WAGNER: Diese Unterwanderungsstrategie ist etwas, was Rechtsextreme ganz bewusst fahren. Da spielt das "Institut für Staatspolitik" als Denkfabrik der Neuen Rechten eine starke Rolle, wo Höcke ein- und ausgeht und sich dort von Möchtegern-Intellektuellen wie Götz Kubitschek ideologisch den Weg weisen lässt. Da geht es ganz stark darum, die kulturellen Räume zu erobern, um dann mit der kulturellen Hegemonie die machtpolitischen Räume zu erobern.

Ein Teil der AfD-Politik ist es, die eigenen Themen so hinzudrehen, als würden sie gegen "Eliten" vorgehen.
WAGNER: Ja, aber auch mit Begrifflichkeit zu arbeiten. Das meine ich auch mit dem Kampf um die kulturelle Hegemonie, die funktioniert ganz besonders über die Sprache. Am Ende hat sozusagen derjenige die Macht, der die Sprache kontrolliert. Ich glaube, auch deswegen gibt es diesen auf den ersten Blick völlig absurden Kampf gegen das Gendern und die Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache.
In Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt gibt es bereits den ersten hauptamtlichen AfD-Bürgermeister überhaupt. Der hatte zur Wahl noch versprochen, Kita-Gebühren abzuschaffen. Jetzt musste er die Gebühren sogar erhöhen. Inwiefern kann so etwas helfen, die AfD zu entzaubern?
WAGNER: Ich glaube, wir sind nicht gut beraten, zu sagen: "Ach, soll die AfD in Regierungsverantwortung kommen, dann sieht man schon, dass das alles nicht funktioniert." Die AfD wird sich nicht selbst entzaubern, sie wird die Macht nutzen, um unser politisches System umzukrempeln. Die sicherere Variante ist es allemal, zu verhindern, dass sie überhaupt in Regierungsverantwortung kommt. Gerade deshalb ist es wichtig, im Vorfeld ihre Argumentation auseinanderzunehmen und auf den Kern dieser Argumentation zu verweisen, nämlich eine menschenfeindliche, extrem rechte und geschichtsrevisionistische Ideologie.
Zur Person
Jens-Christian Wagner ist Historiker und seit 2020 Direktor der Gedenkstättenstiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora. Wagner wurde 1966 in Göttingen geboren, er wuchs im niedersächsischen Herzberg am Harz und einige Jahre in Chile auf. Seine Dissertation verfasste er 1999 über das Konzentrationslager Mittelbau-Dora, dessen Gedenkstätte er von 2001 bis 2014 leitete.