Wer Pflege benötigt und in der Hoffnung zum Telefon greift, schnell eine Betreuung zu bekommen, wird oft bitter enttäuscht. Pflegeeinrichtungen haben entweder lange Wartelisten oder sagen mangels Kapazitäten sofort ab – das gilt für die stationäre wie für die ambulante Pflege. Wohl jeder und jede hat einen solchen Fall schon selbst erlebt oder kann entsprechendes aus dem Bekanntenkreis berichten. Eine Umfrage zeigt nun, dass die Lage in der Pflege noch dramatischer ist, als die vielen Berichte vermuten lassen. Mehr als zwei Drittel der Pflegeeinrichtungen und ambulanten Dienste in der Diakonie mussten demnach im letzten halben Jahr Leistungen einschränken. Die Versorgungssituation in der ambulanten Pflege ist noch prekärer: 89 Prozent der Dienste lehnten in den letzten sechs Monaten neue Kundschaft ab, 29 Prozent konnten Leistungen von Bestandskunden nicht aufstocken.
Für die Ad-hoc-Erhebung befragten der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) und die Diakonie 655 ihrer Pflegeeinrichtungen und ambulanten Dienste. Eine davon ist die Diakoniestation im nordrhein-westfälischen Radevormwald, Geschäftsführer Uwe Kremers bekommt seit Jahren mit, wie sich die Pflegesituation verschlechtert. Es herrscht Ausnahmezustand, erzählt er, und den gibt es nicht erst seit der Corona-Pandemie. „Die Versorgungssicherheit geraden im ambulanten Bereich ist gefährdet“, sagt der Fachmann. Kremers und sein Team wollen es möglichst vielen Patientinnen und Patienten ermöglichen, „möglichst lange zu Hause zu bleiben“. Der Personalmangel lässt das indes in immer wenigen Fällen zu. „Wir sind oft der einzige Kontakt, den die Menschen am Tag haben“, berichtet Kremers. Sein Team sei bemüht, Wünsche zu erfüllen. Das jedoch erhöhe „unglaublich den Stress“.
Viele Mitarbeiter werden krank
Angesichts der stressigen Situation ist es kaum erstaunlich, dass sowohl kurzfristige (73 Prozent) als auch langfristige (66 Prozent) Erkrankungen der Mitarbeitenden laut Umfrage zu den Hauptgründen für die Leistungseinschränkungen gehören. Hinzu kommt ein akuter Personalmangel. Freie Betten können nicht belegt, Anfragen neuer Pflegekunden müssen abgelehnt werden. Die Lage wird schlimmer, weil die Zahl der Pflegebedürftigen weiter steigt und viele Beschäftigte in der Pflegebranche vor der Rente stehen. Fachkräfte aus dem Ausland tragen kaum zur Entlastung bei.

Kremers sagt, eine bessere Bezahlung wäre hilfreich. Doch es geht nicht nur ums Geld. Bei der Digitalisierung ist Deutschland immer noch Entwicklungszone, die Beschaffung notwendiger Daten fresse enorm viel Zeit, beklagt der Experte. Helfen könnte auch „eine deutliche Aufstockung“ der Sozialdienste in den Krankenhäusern, die Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige unter anderem bei Fragen zur Pflege nach dem Klinikaufenthalt beraten. Sie sind ein wichtiges Glied in der Betreuungskette, arbeiten aber am Limit, wie Kremers berichtet: „Die saufen ab“.
Kann Lauterbach es richten?
In der Not richtet sich der Blick auf die Politik – wieder einmal. „Wir brauchen eine grundlegende Pflegereform, zu der wir seit Jahren aufrufen. Sonst steuern wir von der akuten Krise in die Katastrophe, in der pflegebedürftige Menschen nicht mehr professionell versorgt und pflegende Angehörige unterstützt werden können“, sagt Maria Loheide, Sozialvorständin der Diakonie Deutschland. Der DEVAP-Vorsitzende Wilfried Wesemann ergänzt: „Wir müssen vor die Krise kommen und jetzt mit einer grundlegenden Struktur- und Finanzreform beginnen.“ Ein „Pflegegipfel“ soll es richten, fordert er und ergänzt: „Die klugen Ideen sind da, um die Katastrophe abzuwenden und endlich gesamtgesellschaftlich die Langzeitpflege zu entlasten.“
Und wenn das wieder nichts bringt und auch Karl Lauterbach wie viele seiner Vorgängerinnen und Vorgänger nicht der Bundesgesundheitsminister ist, der die Pflegemisere ernsthaft angeht? Die Branche und ihre Beschäftigten denken als Antwort darüber nach „in einem breiten Bündnis Aktionen auf den Weg zu bringen“. Streiks kommen in der Pflege noch nicht oft vor, sie würden das Patientenwohl gefährden. Wilfried Wesemann fasst es so zusammen: „Pflege ist Streik nicht gewohnt.“ Doch die Branche – sie ist gekennzeichnet von vielen Anbietern, es gibt nicht den einen großen Arbeitgeberverband – sucht zunehmend den Schulterschluss. Untereinander, aber auch mit den Kassen sowie den Trägern der Sozialhilfe.
Womöglich braucht es auch mehr Unterstützung von außen. Die Bedeutung von Pflege stehe in Gesellschaft und Medien „nicht im Fokus“, kritisiert Wesemann. Wenn das stimmt, bietet sich bald Gelegenheit, das zu ändern. Am 12. Mai ist „Internationaler Tag der Pflege“. An diesem Tag wurde Florence Nightingale geboren, die britische Krankenschwester gilt als Pionierin der modernen Krankenpflege. Geboren wurde sie im Jahre 1820.
Der Pflegenotstand in Zahlen: Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wird nach Angaben des Statistischen Bundesamts allein durch die zunehmende Alterung bis 2055 um 37 Prozent zunehmen. Sie liegt dann laut „Pflegevorausberechnung“ bei 6,8 Millionen. Ende 2021 gab es rund fünf Millionen alte Menschen in Deutschland. Die Ergebnisse der Vorausberechnung zeigen deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Der geringste relative Anstieg der Pflegebedürftigen ist in Sachsen-Anhalt (sieben Prozent) und in Thüringen (9 Prozent) zu erwarten. Dem gegenüber stehen die stärksten relativen Anstiege durch die Alterung bis Ende 2055 um 56 Prozent in Bayern und 51 Prozent in Baden-Württemberg. Der Durchschnittswert für Deutschland beträgt 37 Prozent.