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Taiwan: Eine Waffe namens Angst: Wie Taiwan mit den Drohungen Chinas umgeht

Taiwan

Eine Waffe namens Angst: Wie Taiwan mit den Drohungen Chinas umgeht

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    Mit regelmäßigen Militärübungen lässt China in Richtung Taiwan die Muskeln spielen, wie hier beim Manöver "Frieden und Freundschaft 2023" in der südchinesischen Provinz Guangdong.
    Mit regelmäßigen Militärübungen lässt China in Richtung Taiwan die Muskeln spielen, wie hier beim Manöver "Frieden und Freundschaft 2023" in der südchinesischen Provinz Guangdong. Foto: Yin Huan, XinHua/dpa

    Die Angst habe sie lange Zeit gelähmt, sagt Chou Hsi-Chien. Die Kampfflugzeuge in der Luft, die Drohungen des kommunistischen Machthabers Xi Jinping, die vom Festland China zur Insel Taiwan rüberhallen. Viele lebten hier ihren Alltag, erzählt die junge Frau, sorgten sich wegen niedriger Löhne, hoher Wohnungspreise und so etwas. Doch das viel größere Problem sei: Es könnte ein Krieg ausbrechen. 

    An diesem Tag sitzt Chou Hsi-Chien in einem Büro im Herzen Taipehs, der Hauptstadt Taiwans. Die Zivilschutzorganisation Kuma Academy lehrt sie hier das Überleben. 40, vielleicht 50 Menschen schauen nach vorne, zu dem Mann, auf dessen T-Shirt „Defeat our Island“ steht – verteidigt unsere Insel. Er hält gerade eine blaue Binde in die Luft, formt daraus eine Schlinge und lässt seinen Arm hindurchgleiten. Er zieht sie zu, die Schlagader in seinem Arm verengt sich. Sollte ein Freund, Familienmitglied oder Chou selbst an Arm oder Bein verletzt werden, würde sie so die Blutung stoppen können.

    Auf dem chinesischen Festland steht das größte Heer der Welt

    Das könnte im Ernstfall nötig sein, wenn China seine Drohungen wahrmacht und sich Taiwan einverleibt. Der Feind auf der anderen Seite der Meerenge scheint übermächtig zu sein. Auf dem chinesischen Festland steht das größte Heer der Welt, zwei Millionen Soldaten, mehr als zehnmal so viele wie auf der kleinen Insel Taiwan. Die Volksrepublik modernisiert das Militär und Experten glauben, bis 2027 könnte es zu einem Angriff kommen. Zivilschutzorganisationen wie die Kuma Academy bereiten Menschen darauf vor. Was bringt Menschen wie Chou so ein Kurs?

    An diesem Samstag wählt Taiwan einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Die Parteien haben unterschiedliche Strategien, wie sich ein Krieg verhindern lassen soll. Die chinakritische Demokratische Fortschrittspartei DPP stellt die amtierende Präsidentin Tsai Ing-Wen. Sie setzt auf die sogenannte Strategie des Stachelschweins – ein kleines Tierchen, das nicht mal von Löwen angegriffen wird, weil sie die Stiche fürchten. Deshalb investiert die Regierung in die Verteidigung, baut U-Boote, kauft Panzer und kumpelt mit dem Verbündeten USA. China soll vor einem Angriff zurückschrecken, weil die Konsequenzen fatal wären – das ist der Gedanke. 

    Die größte Oppositionspartei Kuomintang glaubt, ein aggressiver Kurs provoziere das Regime in Peking. Zwar kündigt auch ihr Präsidentschaftskandidat Hou Yu-Ih am Donnerstag an, aufrüsten zu wollen, um die Volksrepublik abzuschrecken. Gleichzeitig will die Partei wieder mehr Kommunikation mit dem Festland. Bei einem Wahlsieg soll der Austausch mit China zunächst über Tourismus, Bildung und Kultur langsam wieder aufleben. Die Beziehungen sollen sich nicht noch weiter verschlechtern, so die Strategie.

    Nun kleben also auf der Insel Wahlkampfplakate, vor der Insel kreuzen chinesische Kriegsschiffe und über der Insel schweben chinesische Düsenjäger. Manche tun dies als Säbelrasseln ab. Und manche buchen eben einen Kurs bei einer Zivilschutzorganisation wie der Kuma Academy.

    Es heißt, Taiwans Militär sei schlecht auf einen Angriff Chinas vorbereitet

    Auf den Tischen stehen Trinkflaschen, Kursbücher liegen aufgeklappt daneben wie im Schulunterricht. Auf Seite 48 steht die Lektion darüber, wie Verletzte abtransportiert werden. Ein Satellitenbild auf Seite 66 zeigt die Strände, an denen die chinesischen Kriegsschiffe landen könnten. Chou macht gerade Pause. Ihre langen schwarzen Locken hängen tief ins Gesicht. Sie grüßt in fließendem Englisch. Das Fremdsprachenstudium hat sie gerade hinter und den ersten Job als Video-Redakteurin vor sich.

    Gerade standen noch Vorräte sichern und Evakuierung auf dem Stundenplan. Wo sonst hätte sie das lernen sollen? Den Grundwehrdienst dürfen nur Männer machen, und die wiederum halten ihn für Zeitverschwendung. Ein Reservist wird am Rande der Schulung in einem Park erzählen, dass er einmal an einem Gewehr geübt habe, einer T65K2. Die Waffe stammt aus den 70er Jahren. Sonst habe er eher Räume putzen müssen, statt zu trainieren. Und dann sei er froh gewesen, als es vorbei war, erzählt er. Der Militärdienst habe keinen guten Ruf im Land, sagt auch ein Trainer der Kuma Academy. 

    Die Washington Post berichtete im April über Geheimdokumente des US-Verteidigungsministeriums, die nahelegten, dass Taiwans Militär schlecht auf einen Angriff vorbereitet wäre. Die Zeitung schrieb von taiwanesischen Flugzeugen, die nicht einsatzbereit seien, darüber, dass die Insel womöglich nicht über genügend Raketen verfüge. Die Regierung will das Militär nun auf Vordermann bringen. Zum Jahreswechsel verlängerte sie den Grundwehrdienst von vier Monaten auf ein Jahr, die Militärausgaben lagen 2023 bei fast 20 Milliarden Euro. Ein Rekord. Das Militär soll asymmetrische Kriegsführung lernen: mit begrenzten Mitteln einen übermächtigen Feind bekämpfen.

    Um den Schutz der Zivilbevölkerung kümmern sich eine Handvoll Nichtregierungsorganisationen wie die Kuma Academy. Der Grundkurs kostet dort umgerechnet 30 Euro. Die Gründer der Akademie sind Militärexperten, die Kurse sind eine Mischung aus Erste-Hilfe- und Militär-Training. Die Ausbildung an der Waffe gehört nicht dazu. Man wolle keine Milizen ausbilden, heißt es. Breche ein Krieg aus, würde den wenigsten ein Gewehr zugewiesen. Die Soldaten kämpfen und die Bürgerinnen und Bürger sollen ihnen dabei den Rücken freihalten, Verletzte abtransportieren, Schutzkeller erschließen. Jeder hat dann seine Rolle.

    Taiwan lebt schon seit Jahrzehnten mit dem chinesischen Messer an der Kehle

    Vielleicht haben die Kämpfe auch schon längst angefangen. „Peking will einen hybriden Krieg gegen uns führen – bis zu dem Grad, an dem die Taiwaner es nicht mehr aushalten können“, sagte Joseph Wu, der Außenminister der Insel, im November im Interview mit einer Gruppe deutscher Medienleute. Wu glaubt, China wolle den Feind ohne den Einsatz von Gewalt vernichten. Durch Drohungen und Falschinformationen. Angst ist die Waffe, die den Verteidigungswillen der Menschen durchschlagen soll. 

    Chou sagt: „Wir werden ängstlich, wenn wir nicht wissen, was uns bei einem Angriff erwartet.“ Deshalb liest sie Analysen über den Konflikt und besucht die Kuma Academy, wo auch über psychologische Kriegsführung und Desinformationskampagnen aufgeklärt wird. Die Einrichtung will nicht am Gewehr ausbilden, doch vielleicht sind Wissen und Wahrheit Waffe genug.

    Wird es Krieg geben? „Das kommunistische China wird darüber entscheiden“, sagt Chou Hsi-Chien. Falls es Krieg gibt, will sie es der Großmacht so schwer wie möglich machen.
    Wird es Krieg geben? „Das kommunistische China wird darüber entscheiden“, sagt Chou Hsi-Chien. Falls es Krieg gibt, will sie es der Großmacht so schwer wie möglich machen. Foto: Maximilian Münster

    Chou erinnert sich an einen Tag, an dem ihre Furcht besonders groß war. Das war am 2. August 2022. Sie besuchte gerade eine Familie in Frankreich, bei der sie mal gelebt hat. Aus der Ferne verfolgte sie in den Nachrichten, wie Nancy Pelosi in Taiwan landete, die damalige Sprecherin des US-Repräsentantenhauses. Die USA werden an Taiwans Seite stehen, sicherte Pelosi zu. Das machte Peking so wütend, dass es 21 Düsenjäger Richtung Taiwan schickte. Die größte Drohgebärde seit Jahren. Chou rief umgehend ihre Freunde und Familie in Taiwan an. Die konnten sie beruhigen. Kriegsgefahr? Auf der Insel sei alles gut. 

    „Es ist ein Unterschied, wie die Welt auf den Konflikt blickt und was die Menschen in Taiwan darüber denken“, sagt Chou. Es ist ja so: Die Insel lebt schon seit Jahrzehnten mit dem chinesischen Messer an der Kehle. Man hat sich daran gewöhnt. Doch dann fiel Russland in die Ukraine ein. Wer sich in Taiwan sicher fühlte, musste sich nach dem russischen Angriff fragen: Was, wenn auch wir uns in falscher Sicherheit wiegen? Die Menschen buchten daraufhin Kurse bei den Zivilschutzorganisationen, die Kuma Academy gründete sich in diesen Tagen. Etwa 12.000 Menschen haben seitdem einen Grundkurs absolviert. Ein Platz sei fast so umkämpft wie Tickets für ein Taylor-Swift-Konzert, scherzt ein Ausbilder.

    In Taipeh wehen überall ukrainische Flaggen

    Heute wehen überall in Taipeh ukrainische Flaggen. Eine junge Demokratie solidarisiert sich mit einer anderen. Wie Russland spricht auch die Volksrepublik China ihrer Nachbarin die unabhängige Existenz ab. Das geht seit Jahrzehnten so. 1949 waren Anhänger der nationalchinesischen Kuomintang unter Chian Kai-Shek auf die Insel Taiwan geflüchtet, nachdem sie den Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten verloren hatten. Auf Taiwan hielten sie die Republik China am Leben. Sie errichteten eine Militärdiktatur und planten die Wiedervereinigung mit dem Festland. Aber dort gründeten die Kommunisten die Volksrepublik, eine Diktatur, die bis heute Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet. Faktisch gibt es also zwei chinesische Staaten: die Republik China (Taiwan) und die Volksrepublik. 

    In den letzten Jahrzehnten liberalisierte sich Taiwan, die Insel gilt als eine der stabilsten Demokratien Asiens. Die Kuomintang ist mittlerweile die größte Oppositionspartei und strebt aus ihrer Tradition heraus nach wie vor ein vereinigtes China an. Dafür setzt sie auf Verhandlungen. Die demokratische Regierungspartei dagegen will die Unabhängigkeit – eben als Stachelschwein.

    Es hat viel mit Identität zu tun, an welcher Stelle die Wählerinnen und Wähler am Samstag ihr Kreuzchen machen werden. Mehr als 80 Prozent der 20- bis 29-Jährigen definieren sich als taiwanesisch, ihre Eltern und Großeltern sehen sich noch als Chinesen oder als beides. „In den letzten Jahrzehnten ist die Spaltung größer geworden“, glaubt Chou. 

    Die Forward Alliance, eine Mischung aus Denkfabrik und Zivilschutzorganisation, will diese Spaltung überwinden. Ihr Gründer Enoch Wu begrüßt in einem Großraumbüro in Taipeh. Er ist 42 Jahre alt, unter seinem Poloshirt zeichnen sich Muskeln ab. Früher war er Soldat bei einem Spezialeinsatzkommando. „Wir haben ein Problem mit der öffentlichen Sicherheit“, sagt er. Das liege auch daran, dass die Menschen nicht zusammenhielten. Im Büro ist eine Wand mit Fotos übersät, auf denen Kursteilnehmer eng beieinanderstehen. 

    Studien ergaben, dass 80 Prozent der Taiwaner den Status quo erhalten wollen

    Auch die Forward Alliance bringt Menschen bei, wie sie Schutzräume aufsuchen und sich in Kampfgebieten orientieren, doch die eigentliche Mission sei größer, sagt Enoch Wu. „Wir brauchen mehr Einheit statt Polarisierung“, sagt er. Die Frage sei: Verbindet jemand die Wunden eines Mitmenschen, wenn er nicht weiß, ob ihm umgekehrt genauso geholfen würde? Wu will deshalb mehr Solidarität in der Gesellschaft schaffen. Die Forward Alliance unterrichtet an Schulen, in Unternehmen, selbst in Gefängnissen. Im Ernstfall, so das Motiv, müssen alle zusammenhalten. 

    In Taiwan kommen 16.000 Feuerwehrleute auf 24 Millionen Menschen, sagt Enoch Wu. Das sei ein anderes Verhältnis als in Deutschland, wo freiwillige Feuerwehren jedes Dorf beschützen. „Die meisten Menschen hier haben noch nie einen Feuerwehrmann getroffen“, sagt Wu. Die Trainer der Forward Alliance sind Sanitäter, Polizisten, Feuerwehrmänner. Zivilisten sollen ihnen, den Sicherheitskräften der Insel, vertrauen lernen. Bricht die Krise aus, müsse man sich aufeinander verlassen können. So will die Organisation die Verteidigungslinien in der Gesellschaft schließen.

    Studien ergaben, dass 80 Prozent der Taiwaner den Status quo erhalten wollen: keine Wiedervereinigung, aber auch keine völlige Unabhängigkeit. Und keine Gewalt. Doch ob es Krieg geben wird, liege nicht in den Händen der Taiwaner, sagt Chou Hsi-Chien, die Teilnehmerin in der Kuma Academy. „Das kommunistische China wird darüber entscheiden“, sagt sie. Und falls es Krieg gibt, will sie es der Großmacht so schwer wie möglich machen.

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