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Bunte Welt aus Grips und Gips

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Bunte Welt aus Grips und Gips

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    Bunte Welt aus Grips und Gips
    Bunte Welt aus Grips und Gips

    Es gibt einen Ort für Frederik Braun, der ist schön wie das Paradies. Es ist ein Ort, an dem der Rasen grün ist. Die Tribünenränge prall gefüllt. Es wird dort Fußball gespielt. Die Fans singen. Es ist ein Ort, an dem der HSV immer und immer nur gewinnt. Es ist ein Ort, den Frederik Braun selbst geschaffen hat – und er hat nur einen einzigen, einen winzigen Nachteil. Es ist kein Ort der Wirklichkeit. Das Stadion mit dem ewig gewinnenden HSV steht im Kleinformat im Miniatur Wunderland in der Hamburger Speicherstadt. Gerade ist die gigantische Anlage, die größte Modelleisenbahn der Welt, zehn Jahre alt geworden, und in dieser Dekade hat sich die Phantasiewelt aus Grips und Gips zur erfolgreichsten Sehenswürdigkeit der Hansestadt gemausert. 8,3 Millionen Besucher haben die Schau bislang gesehen, lassen sich entführen in den skandinavischen Winter, die Weiten der USA, in die Bergwelt der Schweiz – und wenn Frederik Braun auf diese zehn Jahre zurückblickt, fällt ihm vor allem ein Wort ein: „Wahnsinn.“

    Braun, 43, und ehemals Eventveranstalter und Discothekenbesitzer, ist so etwas wie der geistige Vater der Anlage, sie war seine Idee. Irgendwann um die Jahrhundertwende war er in Zürich in Urlaubslaune in ein Modelleisenbahngeschäft in der Innenstadt gegangen – und mit einem verrückten Plan wieder herausgekommen. Das Stöbern zwischen Lokomotiven in Spurstärke H0 und Fachwerkhäusern zum Selberbauen hat in Frederik Braun einen Kindheitstraum wieder zum Leben erweckt. Anfang der 80-er Jahre war er oft zusammen mit seinem Zwillingsbruder Gerrit in Erlabrunn (Lkr. Würzburg) zu Besuch gewesen, wo seine Oma ein Zeit lang gelebt hatte. „Damals sind wir häufig zur Eisenbahnstrecke am Main. Ich habe dann auf einer Überführung von jedem Zug die Lok, Loknummer, Zugart und Anzahl der Waggons aufgeschrieben und dann noch vermerkt, ob der Lokomotivführer auf unser Winken reagiert hat“, erinnert er sich. Dort, zwischen Würzburg und Karlstadt, hat Frederik Braun erstmals das Deutsche Krokodil gesehen und den alten Trans-Europa-Express, „an dieser Strecke ist meine Liebe zur Eisenbahn richtig entflammt“. Jahre später, in Zürich, ist er sich sicher, wie seine Zukunft aussehen soll. Er überzeugt seinen Bruder und seinen Vater, und er überzeugt vor allem die Hamburger Sparkasse mit einem zweiseitigen Konzept. Frederik Braun, Visionär und Optimist, erhält den Kredit über zwei Millionen Mark – das Projekt startet. Am 16. August 2001 öffnen die Tore im Hafenspeicher, und es passiert die erste und bislang letzte richtige Enttäuschung: „Ich hatte geträumt, dass tausende Menschen vor der Tür stehen. Es kamen gerade mal 200. Da hätte ich mich am liebsten eingeschlossen und geheult“, sagt Braun. Doch schon am nächsten Tag bildeten sich lange Schlangen am Eingang, der Erfolg hält bis heute an.

    Es ist die Liebe fürs Detail, die die Menschen im Wunderland so schätzen. Die Anlage ist eben kein Geschäftsmodell, sondern eine Herzensangelegenheit. „Wir hatten in den letzten Jahren Angebote von Investorengruppen aus allen Teilen der Welt, Ableger zu bauen“, erzählt Frederik Braun. „Bisher haben wir alles abgesagt. Wir haben keine Allmachtsphantasien.“ Mittlerweile ist das Zwillingspaar in Hamburg so bekannt, dass es oft angesprochen wird und Autogramme geben muss. „Das sind hier richtige Stars“, sagt Udo Sommer aus dem Stadtteil Winterhude. Abendblatt, Morgenpost, Bild-Zeitung, regelmäßig werden Storys über das Brüderpaar gedruckt. Sommer, Vater von zwei Kindern, ist regelmäßiger Gast im Wunderland, „aber richtig fasziniert war ich, wie Frederik nach dem Erdbeben in Haiti 2010 selbst am Eingang stand und Sticker für die Haiti-Hilfe verkauft hat. Das war sehr beeindruckend.“ Für ihren Unternehmergeist und ihr soziales Engagement haben beide sogar das Bundesverdienstkreuz bekommen. Der ehemalige Bundesliga-Torhüter Claus Reitmaier, zuletzt Torwart-Trainer beim HSV, lebt in der Hansestadt und gibt zu, dass er eigentlich mit Modelleisenbahnen nichts am Hut hatte: „Aber als ich mit meinem Sohn das erste Mal dort war, hat es mich umgehauen. Die Anlage ist einfach sensationell, und immer gibt es etwas Neues zu entdecken.“

    Dass Braun selbst mittlerweile zu einer bekannten Persönlichkeit geworden ist, die im Fernsehen bei Johannes B. Kerner oder in der NDR-Talkshow im Sessel sitzt, werde ihm manchmal schon etwas zur Last. Selbst im Alltag fühlt er sich beobachtet. „Dabei bin ich ja kein Star“, sagt er, „und deswegen sprechen mich die Menschen wahrscheinlich auch öfter an als etwa einen Schauspieler. Ich bin eher der Kumpeltyp für sie.“

    Mit dem Zug fährt Frederick Braun gerne. „Ich liebe es“, sagt er, „aus dem Fenster zu schauen, Landschaften zu betrachten, zu träumen, es gibt nichts Schöneres“. Mindestens einmal im Monat führt ihn der Weg auch nach Würzburg. Seine Tante Erika liegt als Pflegefall im Juliusspital, und Braun gibt zu, dass es auch Krankenbesuche wie diese sind, „die mich immer wieder erden, wenn alle nur im Superlativ von dir sprechen“. Im Juliusspital dreht sich der Scheinwerfer aus der Scheinwelt des Wunderlands hinüber ins wirkliche Leben. Er liebt die Beschaulichkeit Würzburgs, für ihn ist es das Anti-Hamburg. Meist geht er dann den Fußweg von der Juliuspromenade zur Sanderstraße, wo eine Freundin der Tante lebt. Die Frau regelt dringende Dinge für die alleinstehende Tante, hilft, wo sie kann. „Für mich ist sie auch eine kleine Psychologin“, sagt Braun. Überall, wo er hinkomme, werde er auf das Miniatur Wunderland reduziert. Aber hier, in der Sanderstraße in Würzburg, ist er einfach nur der Mensch Frederik Braun und kann mal zwei Stunden reden ohne ein einziges Mal die Eisenbahn zu erwähnen.

    Was ihm schwer fällt. Denn eigentlich ist er ein Junkie, ein Wunderland-Verrückter, der sich ständig die aktuellen Besucherzahlen auf sein Smartphone senden lässt. „Erst letzte Woche haben wir einen neuen Rekord aufgestellt.“ Mit dem gerade erst eröffneten Flughafen Knuffingen, ein 3,5 Millionen Euro teures Technik-Projekt seines Bruders Gerrit, ist die Anlage um eine Attraktion reicher. Und es ist noch nicht zu Ende. Der Phantasie sind ja keine Grenzen gesetzt. Im Mai 2012 wird Italien gebaut, es folgen Frankreich, England und Afrika. „Wir haben Ausbaupläne bis 2020“, sagt Braun. 800 Quadratmeter Ausstellungsfläche sollen bis dahin dazukommen. Wie wär's mit der Würzburger Residenz als Weltkulturerbe? „Die Residenz hätte sogar eine Chance, weil es da bei mir eine emotionale Bindung gibt“, sagt Braun, „aber Deutschland fassen wir nicht mehr an. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Bürgermeister und Stadträte mich mit ihren Wünschen anschreiben“.

    Obwohl Frederick Braun ein ruheloser Charakter ist, in der Modelleisenbahn hat er, so scheint es, seine Bestimmung gefunden. Zudem eine, die ihm finanzielle Unabhängigkeit beschert hat. „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, je nochmal etwas anderes zu machen“, sagt der Unternehmer. „Das waren phantastische zehn Jahre“, findet er und geht davon aus, dass die nächsten genauso werden. Ob sich innerhalb dieser nächsten Dekade jedoch sein Wunsch von einer deutschen Meisterschaft des HSV erfüllen wird, erscheint fraglich. Neulich erst war er in München und erlebte dort das 0:5-Debakel seines Teams als Fan im Stadion mit.

    Am nächsten Morgen saß er dann wieder im Zug, blickte aus dem Fenster und durchquerte Deutschland einmal der Länge nach. Zurück im Wunderland ist derweil wenigstens in der Arena die Zeit stehen geblieben: Der HSV führt immer noch. 4:3. Auf ewig.

    Miniatur Wunderland in Zahlen

    Die Anlage in der Hamburger Speicherstadt ist die größte ihrer Art weltweit, jährlich kommen über eine Million Besucher. Weitere beeindruckende Zahlen: 1300 Quadratmeter Ausstellungsfläche, 13 km Geleise, 14 450 Waggons, 3050 Weichen, 335 000 Lichter, 3660 Häuser und Brücken, 215 000 Figuren, 8850 Autos, 228 000 Bäume. Baukosten bislang: Zwölf Millionen Euro. Höchster Berg: Matterhorn (sechs Meter). Größtes Meer: Nordostsee (33 000 Liter Wasser). Verbauter Gips: 20 Tonnen. Aufgesaugter Staub seit 2001: Zehn Kubikmeter. Stromverbrauch: Eine Million Kilowattstunden pro Jahr.

    ONLINE-TIPP

    Ein Video und einen Würzburg-Gruß von Frederik Braun finden Sie unter: www.mainpost.de/ueberregional/politik/zeitgeschehen/

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