Er ist früh zu Hause ausgezogen, gerade mal 15-jährig. Als in seinem Lehrbetrieb, einem Münchner Elektronikhersteller, ein Firmenjubiläum gefeiert wurde, „haben alle Beschäftigten gedacht, jetzt gibt's ein schönes Geld, aber nix wars. 100 Mark haben sie bekommen. Zur selben Zeit wollten sie die Brotzeitfrauen kündigen, aber der Betrieb hat Millionen gemacht“. Ein Schlüsselerlebnis für den jungen Klaus Ernst: „Ich habe schnell begriffen, dass die, die nur ihre Arbeit haben, sich für wenig Geld abrackern und aus dieser Situation kaum rauskommen, und auf der anderen Seite die von Haus aus Vermögenden immer reicher werden.“
Gegen diese Knausrigkeit und Kündigungsabsicht im Lehrbetrieb, ausgerechnet im Jubiläumsjahr, bei gleichzeitigem Wohlergehen des Unternehmens, hat Ernst schon als Jungspund den Mund nicht halten können. Der Unmut, der ihn angesichts offenkundiger sozialer Ungerechtigkeit befällt, überkommt ihn ungebremst seit Jahrzehnten. Er ist der Treibsatz einer bemerkenswerten Karriere, die ihn über die größte deutsche Gewerkschaft, die IG Metall, zur Partei Die Linke, zeitweise an deren Spitze und in den Deutschen Bundestag geführt hat. Im vergangenen Jahr wurde er als einer von acht Spitzenkandidaten der Linken zum dritten Mal in den Bundestag gewählt, wo er den Ausschüssen für Arbeit und Soziales sowie für Wirtschaft und Energie angehört. Am 1. November ist Klaus Ernst 60 geworden. An diesem Donnerstag gratuliert ihm die Partei bei einem Empfang in Schweinfurt, wo er von 1995 bis 2010 als IG-Metall-Bevollmächtigter gewirkt hat.
In Schweinfurt kennt ihn jeder, den Klaus Ernst. Eineinhalb Jahrzehnte hat er hier der IG Metall Gesicht und nicht minder Stimme gegeben: laut, deutlich, in der Wortwahl nicht immer zimperlich. „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren“, sagte er gerne und oft, wenn es galt, einen Teil der Gewinne der heimischen Metallindustrie in neuen Gehaltstarifverträgen auf die Belegschaften, die sie mit erarbeitet haben, umzuverteilen. Einer seiner weniger zimperlichen Sprüche lautete: „Wer den Kopf in den Sand steckt, der kriegt in den Arsch getreten und weiß noch nicht mal, wer's gewesen ist.“ Also: „Kopf hoch und aufrecht!“
Richtig frustriert und erbost hat Klaus Ernst die Agenda-Politik Gerhard Schröders. Ausgerechnet ein Sozialdemokrat, Mitglied der Partei, der auch Klaus Ernst seit 30 Jahren angehörte, lockerte den Kündigungsschutz, senkte die Bezugszeit des Arbeitslosengeldes, mutete Arbeitslosen jede Arbeit zu, die nicht gerade sittenwidrig war – und aus Ernsts Verständnis noch einige Unverfrorenheiten mehr. Der Entrüstungssturm gegen die Agendapolitik und Hartz-IV-Gesetze ging im Westen von den Gewerkschaften aus, und Ernst war an vorderster Front dabei: als Gründungs- und Vorstandsmitglied der „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG), die im Juni 2007 mit der ostdeutschen „Linkspartei.PDS“ zur Partei „Die Linke“ verschmolzen ist. Für die sitzt er seit 2005 im Bundestag, derzeit in der dritten Wahlperiode.
Die zweite Reihe ist nichts für Klaus Ernst. Vorne mitmischen muss er immer, auch in der Linken. Von 2007 bis 2010 war er stellvertretender Vorsitzender und von Mai 2010 bis Juni 2012 Vorsitzender. Dieses Amt teilte er sich allerdings mit Gesine Lötzsch bis zu deren Rücktritt am 10. April 2012. Sein schwierigstes Jahr dürfte 2010 gewesen sein. Dass er neben seinen Diäten noch Geld für den Parteivorsitz kassiert, wurde ihm von einigen Linken vorgeworfen, und dass er einen Porsche fährt – moralisch eines aufrechten Linken wohl nicht würdig. Derlei Einwände dürften Ernst nicht mehr als ein müdes Lächeln abgerungen haben.
Dass er als Bundestagsabgeordneter aber unberechtigterweise Flüge zu Aufsichtsrats- und Gewerkschaftssitzungen abgerechnet haben soll, war dagegen ein strafrechtlich relevanter Vorwurf, den einige Medien gerne und ausgiebig verbreitet haben. Das hat Klaus Ernst nicht kalt gelassen und stets bestritten. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt.
Als „Porsche-Klaus“ und „Luxus-Linker“ hat er Schlagzeilen geziert. Das berührt einen wie Klaus Ernst nicht sonderlich. Einer, der vorne dran steht, Verantwortung trägt und hart arbeitet, darf auch ordentlich verdienen – bei der Gewerkschaft genauso wie in einer Partei. Wie und womit er sich was gönnt, ist seine Sache. Zum guten Italiener geht Ernst auch ganz gern, aber Betrügereien lässt er sich nicht nachreden, es sind ihm auch keine nachgewiesen worden.
Wohlstand sollte durch Arbeit möglich sein, nicht nur durch Vermögen, das Bessergestellte für sich arbeiten lassen. Nachdem Letzteres nun einmal ungerecht verteilt ist, muss wenigstens sozialer Ausgleich stattfinden. Dafür will Ernst noch ein bisschen weiterkämpfen, wenn der Wähler es erlaubt. Auf den kommt es an, denn „ein Mandat ist kein Erbhof“. Ansonsten empfindet er „großes Glück, dass ich 60 geworden und einigermaßen gesund bin“. Eine gebrochene Zehe infolge Gleitschirmfliegen gehörte zu seinen größten gesundheitlichen Gebrechen. „Wenn ich sehe, dass Udo Jürgens mit 80 noch auf Tournee geht, dann ist das doch ganz ermutigend“, lacht Ernst – und er lacht gern.