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Die dreifache Katastrophe

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Die dreifache Katastrophe

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    Trauer und Entsetzen: Polizisten in Schutzkleidung, die in der Provinz Fukushima nach Leichen suchen, verharren während einer Schweigeminute für die Opfer des Erdbebens und des Tsunamis in Stille.
    Trauer und Entsetzen: Polizisten in Schutzkleidung, die in der Provinz Fukushima nach Leichen suchen, verharren während einer Schweigeminute für die Opfer des Erdbebens und des Tsunamis in Stille. Foto: Foto: rtr

    Als die Erde zu beben beginnt, blickt Masami Chiba angsterfüllt auf das Meer hinaus. „Ich ahnte in dem Moment, dass ein Tsunami kommen wird“, erinnert sich der 56 Jahre alte Fischer und Austernzüchter. Chiba handelt schnell, so wie er und seine Frau es schon häufiger durchgesprochen hatten für den Fall, dass irgendwann die Natur zuschlägt. Am 11. März ist es soweit. Die Zeiger stehen auf 14.46 Uhr. Ein Beben der ungeheuren Stärke 9,0 erschüttert die nordjapanische Region Tohoku und löst einen Jahrhundert-Tsunami aus. Hastig eilen Chibas Frau, ihr Sohn und dessen Frau mit Baby eine nahe Anhöhe hinauf. Chiba indes steuert das Schiff, das die Existenz der Familie bedeutet, weit hinaus auf das Meer, um es vor der Flut zu retten.

    Was dann passiert, übersteigt jede Vorstellungskraft: Mit mörderischer Gewalt trifft der bis zu 15 Meter hohe Tsunami auf die Küste des in Wohlstand lebenden Inselreichs und walzt alles nieder: Häuser, Häfen, Schulen, Friedhöfe. Dörfer, Städte und riesige Anbauflächen versinken in den Wassermassen. Familien mit kleinen Kindern rennen verzweifelt durch die Reisfelder, um der heranrollenden Riesenwelle zu entkommen. Schon bald treiben zwischen Trümmern und Schlamm Tausende Leichen in den Fluten. Andere spuckt das Meer erst Wochen und Monate später aus, einige wohl nie mehr.

    Während Chibas Familie und viele andere noch ums Überleben kämpfen, spielt sich im nahegelegenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi bereits die nächste Katastrophe ab. Dort fällt nach dem Beben und der Flutwelle das Kühlsystem aus. Es kommt zu spektakulären Explosionen und Kernschmelzen in den Reaktorblöcken. Die Fernsehbilder der schwer beschädigten Gebäude lösen weltweit Entsetzen aus. Im 250 Kilometer entfernten Tokio treten Tausende Ausländer die Flucht an.

    Die Regierung in Tokio versucht die Krise in Fukushima zunächst herunterzuspielen. Wochenlang wird über die Medien des Landes die Fehlinformation verbreitet, es habe in den Reaktoren keine Kernschmelze gegeben. Erst nach einem Monat wird der Unfall mit der höchsten Stufe 7 eingeordnet, derselben also wie Tschernobyl. Es dauert jedoch noch einen weiteren Monat, bis der Atombetreiber Tepco zugibt, dass es tatsächlich zu Kernschmelzen gekommen ist. Reparaturtrupps werden in die Atomruine hineingeschickt, um noch Schlimmeres abzuwenden.

    In den Zeitungen in aller Welt ist bald vom heldenhaften Einsatz der „Fukushima 50“ zu lesen. Später stellt sich heraus, dass einige der vielen Arbeiter und Techniker mitnichten freiwillige Helden waren, sondern Leiharbeiter von anderen Unternehmen, die nur unzureichend über die Risiken Bescheid wussten. Auch die Mafia soll mit dafür gesorgt haben, Arbeiter zu rekrutieren.

    Die meiste Zeit treibt der Wind die Radioaktivität auf das Meer hinaus. Das sorgt dafür, dass vor allem ein Gebiet stark belastet wird, das sich wie eine schmale Zunge von der Atomruine einige Dutzend Kilometer nach Nordosten ausbreitet. Da die vom Staat verordnete Evakuierungszone dies jedoch nicht abdeckt, ziehen einige der 80 000 Anwohner des AKW, die ihre Häuser verlassen müssen, in Gegenden mit noch viel höherer Strahlung als in ihren Heimatorten.

    Weltweit lösen die Gefasstheit und der enorme Durchhaltewillen, mit dem die Menschen in den Tsunami-Gebieten die Krise ertragen, Erstaunen und Bewunderung aus. Die Menschen stehen geduldig in den Notlagern für Wasser und Essen an. Die gesamte Bevölkerung des Landes beginnt, Strom zu sparen. In Städten wie Tokio wird es plötzlich dunkler, Klimaanlagen werden runtergedreht. An U-Bahn-Stationen wird auf Monitoren der aktuelle Gesamtstromverbrauch mitgeteilt, um die Bürger laufend an die Stromknappheit zu erinnern.

    Aus dem ganzen Land strömen Heerscharen junger Freiwilliger in die Katastrophengebiete, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Aber auch die Opfer selbst stehen sich gegenseitig bei. So wie Tsutomu Nakasato. Der Tsunami hat dem Immobilienmakler seine Mutter, seine Frau und sein Enkelkind entrissen. Und trotzdem hat er die Kraft anderen zu helfen, die alles verloren haben. Nakasato stellt Kindern und ihren Familien in Gedenken an seinen toten Enkel einige seiner Wohnungen kostenlos zur Verfügung.

    Man findet sie überall, die stillen Helden von Tohoku. Menschen, die alles verloren haben, die nicht wissen, ob sie je in ihre Heimat zurückkehren können, und doch dabei sind, in der Katastrophe durchzuhalten.

    So wie der Fischer und Austernzüchter Masami Chiba. Der Tsunami hat bis auf sein Schiff seine gesamte Existenzgrundlage zerstört, sein gerade neu gebautes Haus, seine Zuchtanlagen, seine Gabelstapler, alles. Doch sein Sohn gibt ihm wieder Lebenskraft: „Er sagte mir: Du hast Dein Leben riskiert, unser Schiff zu retten. Es ist meine Aufgabe, deine Arbeit auf dem Meer fortzusetzen.“ Während rund 20 Prozent der Einwohner Fukushimas auch aus Sorge um die Verstrahlung der eigenen Kinder ihre Heimatprovinz verlassen haben, will Chiba bleiben.

    Kurz vor dem Jahresende und neun Monate nach der Katastrophe von Fukushima präsentiert die japanische Regierung schließlich gute Nachrichten. Die Strahlung sei inzwischen deutlich unter die Grenzwerte gesunken und die Reaktoren nach neun Monaten unter Kontrolle. Glaubt man den Aussagen, dann können einige der Evakuierten vielleicht tatsächlich schon bald in ihre Heimatorte zurück.

    Deutschlands Atom-Kehrtwende

    Kaum ein Thema war in Deutschland in der Vergangenheit so umstritten wie die Atomenergie – bis es zur Reaktorkatastrophe in Fukushima kam. Ein Rückblick: 28. Oktober 2010: Der Bundestag verabschiedet im Schnitt zwölf Jahre längere Laufzeiten für Atomkraftwerke (AKW). 28. Februar 2011: Fünf SPD-regierte Länder klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Laufzeitverlängerung. Später reichen auch 214 Bundestagsabgeordnete von SPD und Grünen Klage ein. 12. März: Nach dem Atomunfall von Fukushima kündigt Kanzlerin Angela Merkel Sicherheitschecks für die 17 deutschen Atomkraftwerke an. 14. März: Kurz vor wichtigen Landtagswahlen ändert Merkel ihren Kurs: Die Laufzeitverlängerung wird für drei Monate ausgesetzt. 15. März: Merkel kündigt an, dass sieben ältere AKW und der Pannenreaktor Krümmel vorübergehend abgeschaltet werden. 22. März: Die Regierung beauftragt die Reaktorsicherheitskommission, die 17 AKW technisch zu prüfen. Eine neue Ethikkommission soll klären, welches Risiko vertretbar ist. 1. April: Der Energiekonzern RWE reicht Klage gegen die vorübergehende Abschaltung seines AKW Biblis ein.

    28. Mai: Die Ethikkommission empfiehlt einen Atomausstieg binnen zehn Jahren. 30. Mai: Die schwarz-gelbe Koalition will das letzte AKW bis 2022 abschalten, die sieben ältesten Meiler und Krümmel sofort. 31. Mai: Der Energiekonzern E.ON kündigt Klage gegen die Brennelementesteuer an, später auch RWE. Gerichte äußern schließlich Zweifel an der Steuer, der Staat muss beiden Konzernen 170 Millionen Euro zurückerstatten. 3. Juni: Angela Merkel verkündet eine Stufen-Abschaltung: 2015, 2017 und 2019 je ein Atomkraftwerk, 2021 und 2022 jeweils drei Meiler. 6. Juni: Das Kabinett billigt das Atom- und Energiepaket. 30. Juni: Union, FDP, SPD und Grüne stimmen im Bundestag dafür.

    ONLINE-TIPP

    Außer Fukushima prägten noch andere Schlagzeilen das Jahr 2011 – zum Beispiel Skandale rund ums Essen. Unser großer Rückblick: www.mainpost.de/2011

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