Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

FRANKFURT/WÜRZBURG: Eine Zumutung für die Zeugen

FRANKFURT/WÜRZBURG

Eine Zumutung für die Zeugen

    • |
    • |
    Keiner Schuld bewusst: Der Angeklagte Wilhelm Boger, Erfinder der „Boger-Schaukel“.
    Keiner Schuld bewusst: Der Angeklagte Wilhelm Boger, Erfinder der „Boger-Schaukel“.

    Eingeschüchtert, hilflos, fremd wären die Zeugen in den Pausen durch die Stadt geirrt, heißt es in einer TV-Dokumentation über den Auschwitz-Prozess in Frankfurt aus dem Jahr 1964. Dass sich die Holocaust-Überlebenden unwohl fühlten, lag sicher nicht nur daran, dass sie sich im Land ihrer einstigen Peiniger befanden oder oftmals die Sprache nicht verstanden – viele kamen aus Polen. Ihr Unbehagen dürfte auch an der Art ihrer Befragung gelegen haben.

    Wer sich die Tonbandmitschnitte der Zeugenaussagen anhört, die das Fritz Bauer Institut in Frankfurt herausgegeben hat, kann es nachvollziehen. Oftmals klingt es so, als wären die Zeugen die Beschuldigten, weil sie nicht mehr genau wussten, wann sie die Gräueltaten der Angeklagten beobachtet oder sogar selbst erlitten haben, oder weil sie nicht mehr die genauen Umstände schildern konnten, wann ein Häftling zu Tode geschlagen, getreten oder gespritzt wurde.

    Die Feststellung der Schuld habe das Gericht vor außerordentlich schwere Aufgaben gestellt, sagte vor 50 Jahren Hans Hofmeyer, der Vorsitzende Richter, in seiner Urteilsbegründung. Zur Rekonstruktion der Taten der Angeklagten hätten fast ausschließlich nur Zeugenaussagen zur Verfügung gestanden. „Es ist eine Erfahrung der Kriminologie, dass Zeugenaussagen nicht zu den besten Beweismitteln gehören, dies umso mehr, wenn sich die Aussage des Zeugen auf Vorfälle bezieht, die vor 20 Jahren oder mehr unter unsäglichem Leid und Qualen von den Zeugen beobachtet worden sind“, so Richter Hofmeyer. Selbst ideale Zeugen seien Erinnerungslücken unterworfen. „Er gerät in Gefahr, Dinge, die er tatsächlich erlebt hat, auf andere Personen zu projizieren und Dinge, die ihm von anderen in diesem Milieu sehr drastisch erzählt wurden, als eigenes Erlebnis aufzufassen.“

    Oder es kam zu Verwechslungen – wie bei den Zeugen aus Würzburg: der Autoschlosser Waldemar S. sowie der Schausteller Max F., die aus „rassischen Gründen“ in Auschwitz waren. Beide wurden im Vorfeld des Frankfurter Auschwitz-Prozesses zusammen von einem Polizeibeamten in Würzburg befragt. Davon wurde ein gemeinsames Protokoll erstellt, aus dem nicht hervorging, wer von den beiden Zeugen was gesagt hat. Beim Prozess in Frankfurt sorgte das für Verwirrung.

    Die Befragung von Waldemar S. ist zudem ein Beispiel dafür, welche genauen Ortskenntnisse verlangt wurden. So musste er im Gerichtssaal vor die große Karte des Konzentrationslagers treten und zeigen, wo er auf dem riesigen Gelände zur Arbeit eingeteilt war. Seine Antworten waren recht einsilbig. Etwas ausführlicher wurde der Würzburger, als er Angaben zu Franz Hofmann machen sollte. Der Angeklagte war stellvertretender Schutzhaftlagerführer. Das Gericht fragte nach, was Waldemar S. eines Abends tatsächlich sah, als der Stubendienst und die Schreiber „Sport“ gemacht hätten. Dabei sollen zwei Menschen getötet worden sein.

    Es war eine mühselige Vernehmung. Waldemar S. versuchte, seine Situation zu erklären: „Ja schauen Sie, Herr Vorsitzender, ich war 19 Jahre, das sind jetzt 21 Jahre her. Man ändert sich in 21 Jahren.“ Letztlich erkannte er in der Verhandlung den Angeklagten Hofmann nicht. Und Hofmann nutzt die vagen Aussagen von Waldemar S., um die Anschuldigungen gegen ihn abzuschwächen. Im Lager wurde laut Hofmann „so viel erzählt“ und es habe viele Gerüchte gegeben. Der Zeuge habe zwar zwei Tote gesehen, nicht aber, dass „diese zwei Toten vom 'Sportmachen‘ her sozusagen zu Tode gequält worden sind“. Worauf der Vorsitzende Richter nur entgegnen konnte: „Ja, das ist sehr geschickt von Ihnen vorgetragen.“ Hofmann, der bereits 1961 in München wegen Mordes in seiner Zeit in Dachau zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden war, blieb nach dem Frankfurter Prozess im Gefängnis.

    Wesentlich genauer als bei Waldemar S. waren in Frankfurt die Erinnerungen von Jehuda Bacon. Er kannte nicht nur die Namen der Angeklagten. Er erkannte sie auch im Gerichtssaal. Der Künstler ist in Würzburg heute kein Unbekannter. Rund 4000 Werke hat er dem Würzburger Museum am Dom gestiftet und mehrfach dort seine Geschichte erzählt. Jehuda Bacon wurde 1929 in Ostrava, damals Mährisch-Ostrau, geboren. 1942 wurde er mit seiner Familie nach Theresienstadt und Ende 1943 nach Auschwitz deportiert. Dort verlor er Mutter und Schwester aus den Augen; ein halbes Jahr später wurde sein Vater vergast – am 10. Juli 1944. Dieses Datum hat sich in Jehuda Bacons Gedächtnis eingebrannt. Er selbst wurde aus den Todgeweihten „herausselektiert“ und einer der sogenannten Birkenau Boys. Die Jugendlichen wurden wie Pferde vor Rollwagen gespannt, um die Kleidung der Getöteten aus den Krematorien zu holen – oder um ihre Asche auf die vereisten Wege zu streuen.

    Jehuda Bacon überlebte als Einziger seiner Familie und emigrierte nach Jerusalem. Er war 35 Jahre alt, als er Ende Oktober 1964 in Frankfurt als Zeuge auftrat. Bereits kurz nach seiner Befreiung hatte er seine schrecklichen Erlebnisse gezeichnet. Ihm stand also auch ein visuelles Gedächtnis zur Verfügung.

    In Frankfurt wurde er vor allem über seine Erinnerungen an die beiden Angeklagten Stefan Baretzki und Emil Bednarek befragt. Der eine war Blockführer, der andere „Funktionshäftling“, der von der SS als Blockältester im Männerlager eingeteilt wurde. Beide wurden in Frankfurt „zu lebenslangem Zuchthaus“ verurteilt.

    Jehuda Bacon schilderte, wie Benarek seine Mitgefangenen verprügelte – mit der Faust oder mit dem Schemel. Auch bei Stefan Baretzki hat er miterlebt, wie dieser einem Häftling eine Flasche auf den Kopf schlug, so dass dieser nicht mehr aufstand. Bei seiner Zeugenaussage konnte Jehuda Bacon exakte Orte innerhalb des KZ Auschwitz angeben, in denen er sich aufhielt und die Misshandlungen mitansehen musste. Er konnte zudem weitere SS-Männer mit Namen benennen und Ereignisse schildern – etwa an der Rampe – als hätte er sie erst vor kurzem erlebt.

    Er zeigte im Gerichtssaal auch seine Zeichnungen von den Gaskammern und den Krematorien, die er unmittelbar nach seiner Befreiung angefertigt hat.

    „Es ist gewiss für die Zeugen eine Zumutung gewesen, wenn man sie heute noch nach allen Einzelheiten ihrer Erlebnisse fragt“, räumte Richter Hans Hofmeyer 1965 in seiner Urteilsbegründung ein. Laut Hofmeyer erschienen Zeugen im Vorfeld des Prozesses so glaubwürdig, „dass wir sogar Haftbefehle auf ihre Aussage hin ausgestellt haben“. Doch dann sei festgestellt worden, dass sie „nicht unbedingt der objektiven Wahrheit entsprechen mussten“. Zur Höhe der jeweiligen Strafmaße sagte Hofmeyer damals: „Selbst wenn in allen Fällen die Angeklagten wegen Mittäterschaft zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden wären, würde eine Division dieser Strafen durch die Anzahl der Opfer niemals auch nur zu einer annähernd gerechten Sühne führen – dazu ist das Menschenleben viel zu kurz.“

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden