Darf Bayerns Ministerpräsident Seehofer im Alleingang Bayerns Grenzen dicht machen? Können Politiker eine „Obergrenze“ bei der Aufnahme von Asylbewerbern erreichen? Sind Transitzonen überhaupt legal? Mit dem Würzburger Verfassungsjuristen Professor Kyrill-Alexander Schwarz sind wir solchen Fragen nachgegangen. Und haben gelernt, dass die Kanzlerin sich formaljuristisch vom deutschen Recht verabschiedet hat und Bayerns Ministerpräsident verfassungsrechtlich unzulässige Forderungen stellt.
In ihrem „Brandbrief“ fordern mittlerweile 126 CDU-Politiker die Kanzlerin auf, das „deutsche und das europäische Recht wiederherzustellen“ und Flüchtlinge aus sicheren Drittstaaten an den Grenzen abzuweisen. Hat Angela Merkel an jenem historischen Septembertag, als sie Syrien-Flüchtlinge in Ungarn nach Deutschland einlud, gegen geltendes europäisches Recht verstoßen?
Prof. Kyrill-Alexander Schwarz: Das europäische Recht sieht vor, dass Asylanträge in den Staaten gestellt werden, in denen die Flüchtlinge erstmals den Bereich des Schengen-Abkommens erreichen.
Das heißt, dass der Zustand, den wir jetzt haben – dass nämlich etwa über Ungarn gekommene Syrienflüchtlinge in Deutschland Asylanträge stellen – nicht mit dem Geist des Schengen-Abkommens und mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Das kann man ganz klar sagen. Folgte man dem Buchstaben des Gesetzes, müssten die Flüchtlinge in die Erstaufnahmeländer zurückgeführt werden – also hauptsächlich nach Griechenland und Italien.
Formaljuristisch hat die Kanzlerin sich also vom geltenden Recht verabschiedet.
Ja. Aber es ist ja nicht so, dass sich nur Frau Merkel vom geltenden Recht verabschiedet hätte. Diejenigen, die in erster Linie gegen das Recht verstoßen haben, waren Länder wie Griechenland, wie Italien, die ohne Registrierung Flüchtlinge einfach weitergeschickt haben nach Österreich und Deutschland. Laut Schengen-Abkommen hätten die Erstaufnahmeländer die Flüchtlinge registrieren müssen – und dort hätten die Asylanträge gestellt werden müssen. Dass Griechenland und Italien faktisch damit überfordert sind, liegt auf der Hand. Von daher kann man nicht wirklich argumentieren, dass die Kanzlerin sich rechtsuntreu verhält – sie hat reagiert auf Rechtsuntreue anderer.
„Schließt die Grenzen“ haben damals manche Bürger gerufen; heute fordern das im überlasteten Bayern auch Politiker. Darf man das – rein juristisch gesehen?
Eine der Grundprämissen der Europäischen Union war die Schaffung eines grenzfreien Binnenraums. Vor diesem Hintergrund wäre die Wiedererrichtung nationaler Grenzen mit europäischem Recht so nicht zu vereinbaren. Das ist die Grundidee, allerdings sieht das Schengen-Abkommen vor, dass vorübergehend Grenzkontrollen eingerichtet werden können.
Wir haben ja im Moment zeitlich begrenzte Grenzkontrollen.
Beim G7-Gipfel in Elmau im Sommer hatten wir diese zeitlich begrenzten Kontrollen durch die Bundespolizei. Und auch jetzt, begrenzt auf zwei Monate. Das ist legal.
Aber Soldaten an der Grenze aufmarschieren zu lassen und zu sagen „Hier kommt jetzt keiner mehr durch“ – das wäre verfassungsrechtlich nicht zulässig.
Das ginge überhaupt nicht! Erst einmal kann die Bundeswehr nur zur Verteidigung und in Katastrophenfällen eingesetzt werden – und ich glaube nicht, dass man ernsthaft behaupten kann, wir hätten aktuell eine Katastrophensituation. Das Oder-Hochwasser war eine Katastrophen-Situation; Flüchtlinge sind es nach meiner Rechtsauffassung nicht.
Zudem ist für die Sicherung der deutschen Außengrenzen ausschließlich die Bundespolizei zuständig. Verantwortlich ist also ausschließlich der Bund. Weshalb sich der Freistaat Bayern nicht eigenmächtig hinstellen könnte und sagen könnte: „Die Sicherung der Grenzen übernehmen jetzt wir.“
Verfassungsrechtlich gesehen ist es also eine leere Drohung, wenn Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer sagt: „Egal was der Bund tut – wir machen Bayerns Grenzen jetzt dicht.“
Das kann man so sagen. Es ist eine politisch nachvollziehbare, aber verfassungsrechtlich so sicher nicht durchgreifende Drohung. Das gilt im Übrigen auch für Seehofers Drohung mit dem Gang nach Karlsruhe, vors Verfassungsgericht. Auch diese Drohung ist sicherlich politisch nachvollziehbar. Sie ist verfassungsrechtlich aber problematisch, weil dort ja wohl gerügt werden soll, dass der Bund in der Flüchtlingskrise nicht genug getan habe, um den Bundesländern zu helfen. Es geht also ums „Unterlassen“. Will ich aber ein „Unterlassen“ rügen, muss man belegen können, dass der Betreffende gar nichts getan hat. Und das ist nicht der Fall. Ich glaube, dass es keinen verfassungsrechtlichen Hebel gibt, den Bund zu zwingen, etwas zu tun – dafür ist der Gestaltungsspielraum des Bundes zu groß.
Wir haben also gelernt, dass es verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist, Deutschlands oder auch Bayerns Grenzen zu schließen. Wäre eine Begrenzung der Zuwanderung, wie sie Seehofer jetzt fordert, verfassungsrechtlich denkbar?
Die einzig immanente Begrenzung, die unser Asylrecht hat, ist die Formulierung „politisch verfolgt“. Das Asylrecht, so wie es im Grundgesetz formuliert ist, kennt also keine zahlenmäßige Obergrenze. Das sollte man natürlich jetzt nicht so verstehen, dass jeder auf der Welt politisch Verfolgte sich jetzt auf den Weg nach Deutschland machen kann. Aber dem Grunde war war das die Idee. Nur hat man zur Zeit der Formulierung des Gesetzes nicht damit gerechnet, dass so viele davon Gebrauch machen könnten. Den Urhebern des Gesetzes ging es um Einzelfälle. Wenn Seehofer jetzt aber eine Begrenzung der Zuwanderung fordert, gibt es ja noch eine zweite Ebene – und zwar die innerdeutsche Verteilung der Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel.
Der Königsteiner Schlüssel regelt ja, wie viele Flüchtlinge jedes Bundesland nehmen muss. De facto wird er ja gerade nicht so angewandt, wie er angewandt werden sollte – zum Nachteil Bayerns.
Genau. Seehofer kann hier eine gerechtere Verteilung innerhalb der Bundesländer anmahnen; dieses Recht hat er natürlich.
Lassen Sie uns auf die Transitzonen blicken, deren Schaffung gerade erwogen wird. Sind sie verfassungsrechtlich bedenklich?
Die Aufregung über Transitzonen sollte sich in Grenzen halten; denn wir haben schon seit Jahren Transitzonen – und zwar an Flughäfen. Da ist völlig klar, dass der, der mit gefälschten Papieren oder ohne Papiere kommt, vorübergehend in einen Transitraum verbracht wird. Dadurch soll verhindert werden, dass die betreffende Person schon ihren Aufenthalt in Deutschland nimmt. Man kommt so einem zeitraubenden Asylverfahren und Schwierigkeiten bei der Rückführung zuvor. Würden wir jetzt Transitzonen an den Grenzen schaffen, ist die Frage der Rechtmäßigkeit nicht eindeutig. Denn während ganz klar ist, dass Transitzonen an Flughäfen praktisch ein Stück europäische Außengrenze darstellen, schweigt das europäische Recht zu der Frage, ob diese Definition auf Transitzonen im Land übertragbar wäre.
Geht es jetzt – oder geht es nicht?
Die Position der Europäischen Kommission ist diese: An den Grenzen zwischen EU-Mitgliedstaaten sind Transitzonen nur als Ausnahmefall und nur auf begrenzte Zeit möglich. Haben wir den Ausnahmefall, den man definieren kann als Gefahr für die innere Sicherheit? Den haben wir, ganz sicher! Die zweite Einschränkung, die wir haben, bezieht sich auf die Zeit – üblicherweise beträgt die Zeitbegrenzung zwei Monate. Eine Zeitverlängerung auf zwei Jahre ist zulässig – allerdings nur mit Zustimmung der Europäischen Kommission. Deutschland kann also nicht allein über eigene Transitzonen entscheiden kann – es müsste sie sich genehmigen lassen.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble denkt gerade über niedrigere Hartz-IV-Sätze für Flüchtlinge nach. Das ist doch wohl ein problematischer Vorschlag – insofern als einem früheren Verfassungsgerichtsurteil zufolge der aktuelle Leistungssatz das Existenzminimum darstellt und nicht unterschritten werden darf.
Auch wenn die deutschen Leistungen für Asylbewerber im europäischen Vergleich hoch sind, würde eine Kürzung der Hartz-IV-Sätze ein verfassungsrechtliches Risiko darstellen. Das Bundesverfassungsgericht hat ja vor kurzem entschieden, dass die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu gering waren und mithin nicht einem menschenwürdigen Existenzmininum entsprachen. Die Umstellung der Asylbewerberleistungen von Geld- auf Sachleistungen hingegen stellt kein verfassungsrechtliches Risiko dar.
Es gibt derzeit Befürchtungen, dass angesichts des im deutschen Asylrecht verankerten Anspruchs auf Familiennachzug sich die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland auf fünf oder mehr Millionen erhöhen könnte. Kann man den Anspruch auf Familiennachzug aus dem Asylrecht rausnehmen?
Da gäbe es große verfassungsrechtliche Bedenken. Das deutsche Grundgesetz schützt Ehe und Familie und differenziert nicht zwischen deutschen und ausländischen Ehen.
Wir haben gesehen, dass man auf Basis des existierenden Rechts den Flüchtlingszustrom wohl kaum stoppen kann. Rein theoretisch: Kann man das bestehende Recht ändern?
Die Änderung der Verfassung bedarf einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Und sie darf gegen gewisse Grundsätze überhaupt nicht verstoßen – man kann ja nicht die Menschenwürde aushebeln. Wobei man grundsätzlich sagen muss: Das Asylrecht ist nicht grundsätzlich gegen Änderungen gefeit.