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Haut Couture

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    FOTO: FRAUNHOFER IGB/ RAFAEL KROETZ
    FOTO: FRAUNHOFER IGB/ RAFAEL KROETZ

    Sie surrt nur leise. Und sie macht alles selbst: Sterilisiert vorne Hautproben. Schneidet Gewebeproben klein. Gießt einen Enzym-Cocktail auf die zerhackten Stückchen und trennt so die unterschiedlichen Zelltypen der Haut. Sie pickt die Zellen auf, füllt sie in kleine Petrischalen mit Nährlösung, regt sie an zum Vermehren. Sie protokolliert permanent Temperatur, Kohlendioxid, Luftfeuchtigkeit. Sie setzt die neu gewachsenen Zellen auf einem dreidimensionalen Gel-Gerüst in zwei Schichten wieder zusammen, steckt das Ganze in den Brutschrank, auf dass zusammenwachse, was zusammengehört. Und am Ende, nach drei Wochen, schiebt sie hinten fertige Hautstückchen heraus. Daumennagelgroß, maßgeschneidert, versandfertig. Bei Dauerbetrieb im Monat 5000 Stück.

    Die Anlage im Stuttgarter Fraunhofer-Institut, die da leise surrt, kann der Beginn eines Gewebe-Gewerbes sein. „Wunder der Fleischwerdung“ hat der „Spiegel“ über die ungewöhnliche Apparatur geschrieben. Und sie ist etwas, was Heike Walles zum ersten Mal in ihrer ziemlich erfolgreichen Forscherkarriere richtig glücklich macht. „Damit können wir künstliche Haut industriell, vollautomatisch herstellen.“ Künstliche Haut vom Fließband.

    Es ist der Traum der Transplantationsmedizin: Menschliches Gewebe industriell zu fertigen und in beliebiger Menge bei Bedarf verfügbar zu haben. Vergleichsweise einfach aufgebaute Organe wie Knorpel oder eben Haut können die Biomediziner schon seit längerem im Reagenzglas züchten. „Tissue Engineering“ heißt im Jargon der Mediziner die Technik des Gewebezüchtens. Doch mit „Ingenieurwesen“ war bislang nicht viel. Für Tissue Engineering brauchte man viele, viele Handgriffe und noch mehr Geduld. Gewebeherstellung, erzählt Heike Walles, ist mühsame Arbeit im Labor – „eine unheimliche Friemelei“. Bis eine kleine Zellprobe zu einem centgroßen Gewebefetzen herangewachsen ist, vergehen Wochen.

    Heike Walles, seit einem Jahr Professorin für Regenerative Medizin und Inhaberin des Lehrstuhls für Tissue Engineering an der Uni Würzburg, hatte lange viel Geduld. Menschliches Gewebe nach Maß herstellen zu können, Lebern, Lungen, ganze Gliedmaßen – das war vor zehn, 15 Jahren die Verheißung der Wissenschaft. Und die Biologin wollte daran mitwirken. An der Medizinischen Hochschule Hannover begann sie, Herzklappen zu entwickeln. Aber das Interesse der Herzchirurgen an den Klappen aus menschlichem Material war nicht sonderlich groß, sie setzten lieber auf Gewohntes. Heike Walles begann an einer künstlichen Leber zu arbeiten. Ein Stück, „so groß wie eine Nürnberger Rostbratwurst“, konnte sie mit ihrem Team in den Bioreaktoren, den „Gewächshäusern“, heranzüchten.

    Bonsai-Leber – immerhin. Aber da war und ist das Problem mit den Blutgefäßen, die bekommen die Forscher einfach nicht gut genug hin. Ganze Organe aus der Retorte, die mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden – es ist bislang mehr beim Wunsch denn bei der Fleischwerdung geblieben.

    Als Heike Walles im Jahr 2004 nach Stuttgart, ans Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik, wechselte und dort die Abteilung Zellsysteme übernahm, arbeitete sie mit ihrem Mann, Chirurg Thorsten Walles, an Luftröhrentransplantaten. Die Bioingenieure nahmen Schweinedarm, reinigten ihn bis aufs feine Röhren- und Fasergerüst von allen schweinischen Zellen und siedelten menschliche Zellen für Gefäße, Bindegewebe und Muskeln darauf an, die sie aus einem Stückchen Oberschenkel des Patienten gewonnen hatten. Vier solcher künstlicher Luftröhren fertigen die Stuttgarter Bioingenieure, vier schwerstkranken Menschen mit durchlöcherten, zerstörten Atemwegen konnten die Chirurgen so helfen. Doch Heike Walles war klar, dass solch mühsam ertüftelte, in teure Hochreinlabors zusammengefriemelte Einzelstücken noch lange nicht für einen Routine-Einsatz in der Klinik taugen. Von Standard im Krankenhausalltag ganz zu schweigen.

    Gut, Knorpelzellen werden heute im Labor und mit kommerziellem Ziel schon ganz gut vermehrt und den Patienten häufig in die Gelenke gespritzt. „Aber die regenerative Medizin hat es nicht effektiv in die Klinik geschafft“, sagt die Würzburger Professorin. Und fügt, mit Bedauern in der Stimme, an: „Schade, wie wenig Produkte bisher auf den Markt gekommen sind.“ Immerhin, sie saß in Stuttgart an der richtigen Stelle. Am Fraunhofer-Institut, bei Ingenieuren und Verfahrenstechnikern, bei Physikern und Automatisierungsspezialisten. Bei Leuten, die sich nicht mit Frickelei abfinden, sondern große Lösungen suchen. Nach nicht einmal drei Jahren Entwicklung surrt sie jetzt, die Hautfabrik aus Glas und Stahl. Hochsteril in ihrem Inneren. Ausbaufähig und effektiv. Statt Laborassistenten schneiden, pipettieren, füllen, hantieren Roboterarme und Automaten. Die fertigen Gewebeläppchen sind begehrt, vor allem bei Pharma- und Kosmetikindustrie. Mit den Präparaten lassen sich Medikamente, neue Produkte und allerlei reizende Stoffe auf Verträglichkeit testen. Besser als im Tierversuch, weil die Haut zwar industriell produziert, aber physiologisch doch menschlich ist und damit Stoffwechsel und Immunsystem „echt“ reagieren.

    Auch das gezüchtete Leberstückchen dient vor allem Testzwecken. Bislang müssen viele Tiere daran glauben, bevor ein Wirkstoff auf den Markt kommt – und doch garantieren die Tests nie völlige Unbedenklichkeit. Der Mensch reagiert anders als der Affe, anders als Ratte und Maus. Die Mini-Leber, die außerhalb des Körpers funktioniert, ist dagegen – der menschlichen Zellen sei Dank – eine zuverlässige Prüfapparatur.

    Heike Walles' Ziel: Dass die Haut nicht nur zu Testzwecken, sondern auch für die Transplantationsmedizin vom Fließband kommt. Dass solch eine Anlage irgendwann in kleinem Maßstab auch an Universitätskliniken wie in Würzburg steht und schnell, standardisiert aus menschlichem Zellmaterial Transplantate auf Knopfdruck produziert. Auch deshalb hat die Zellspezialistin und Gewebeingenieurin den Ruf an die Uni Würzburg angenommen: Um im engeren Austausch mit der Medizin und den Kliniken zu sein. Um mit Augenärzten, Chirurgen, Herzspezialisten zu forschen und zu versuchen, Entwicklungen schneller aus dem Labor an den Operationstisch zu bringen. Gezüchtetes Gewebe wird von den Zulassungsbehörden wie neue Arzneistoffe behandelt. Damit einfach zu experimentieren und am Patienten auszuprobieren – unmöglich.

    Zusammen mit Dr. Jörn Probst vom Fraunhofer-Institut für Silicatforschung (ISC) in Würzburg arbeitet Heike Walles an Modellen für verletzte Haut. Bislang setzen die Ärzte bei der Behandlung von chronischen Wunden auf Erfahrung – verstanden haben sie den Heilungsprozess noch nicht. Soll man Wunden, die immer wieder aufbrechen, trockenlegen, wie früher oft geraten wurde? Soll man sie besser feucht halten, um das Gewebe mit Nährstoffen zu versorgen und zu durchbluten? Die Arbeitsgruppe von Heike Walles macht sich jetzt daran, auch versehrte Hautpartien in der Petrischale wachsen zu lassen. An ihren künstlichen Wunden wollen die Würzburger Forscher dann Wirkstoffe testen. Und die Wundeinlagen, die am ISC entwickelt wurden. Mit Hilfe der kranken Haut aus dem Labor ließe sich die selbstauflösende Einlage recht einfach und unkompliziert verbessern, sagt Jörn Probst.

    Und die Wunder-Anlage der Fleischwerdung in Stuttgart? Sie surrt. Zwei Jahre brauche es noch, um die Gewebe-Straße flexibel zu machen. Dann, sagt Heike Walles, könnte die Anlage automatisch sechs Mal sechs Zentimeter große Stücke von verschiedenen Hauttypen herstellen. Auch Bindehaut. Oder Knorpel. Irgendwann vielleicht Haut mit Haarwurzeln. Und Vollhaut – samt Blutgefäßen.

    Regenerative Medizin

    Der junge Forschungsbereich in der Biomedizin versucht, verschiedene Erkrankungen durch die Wiederherstellung der funktionsgestörten Zellen, versehrten Gewebe und ausgefallenen Organe zu heilen. Dabei setzen die Forscher nicht nur auf den biologischen Ersatz wie gezüchtete Gewebe aus körpereigenen Zellen. Sie regen auch körpereigene Regenerations- und Reparaturprozesse an. Schwerpunkte in der Regenerativen Medizin (von lateinisch regeneratio • Neuentstehung), die neben die Chirurgie und Arzneimittel tritt, sind die Stammzellforschung und das Züchten von Gewebe- und Zellverbänden, im Fachjargon Tissue Engineering genannt.

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