Drei Jahre lang war die 38-jährige Estenfelderin mit ihrem Freund Stefan Ramin über die Weltmeere gesegelt, in der Südsee endete jäh die Idylle. Ein einheimischer Jäger tötete Stefan auf der Ziegenjagd und lockte auch Heike Dorsch von Bord, um sie zu töten.
Sie entkam nur knapp, fand bei ihrer Familie in Estenfeld Halt – und hat über die Erlebnisse jetzt das Buch „Blauwasserleben“ geschrieben. Ein Interview über Liebe, Leid und das Weiterleben nach dem Tod eines Menschen, den man 17 Jahre lang geliebt hat.
Frage: Warum schreiben Sie ein Buch und warum jetzt?
Heike Dorsch: Es war Teil meiner Therapie. Wie meine Familie hat es mir in der Zeit nach Stefans Tod Halt gegeben, in der ich keinen Alltag mehr hatte und keine Struktur. Ich musste morgens aufstehen, denn ich musste schreiben, musste Fotos anschauen. Ich bin 17 Jahre zurückgegangen, habe mir alte Liebesbriefe angeschaut. Ich habe die Ereignisse verarbeitet dadurch. Ich habe es erzählt, ich habe es wieder gelesen und wieder geändert. Heute bin ich froh, dass es da ist, denn es ist eine schöne Erinnerung an Stefan.
Wie kamen Sie auf die Idee?
Dorsch: Das Buch ist auf mich zugekommen. Die Idee geht schon so weit zurück wie die Idee von einer Weltumsegelung. Als wir losfuhren, stellten wir eine umfangreiche Internetseite ins Netz. Bald haben wir gemerkt, dass viele Leser uns schrieben und unsere Tour verfolgten. Dann haben wir festgestellt, dass wir viele gar nicht kannten, die begeisterte Mitsegler aus der Ferne waren. Stefan und ich hatten uns unterhalten, dass wir mal Diavorträge halten oder ein Buch schreiben, damit mehr Menschen teilhaben können an der Reise. Dann ist das passiert.
In dem Buch kann man Ihr Entsetzen über „das“ nachvollziehen. Aber heute wirken Sie erstaunlich gefasst und sachlich. Haben Sie lange gebraucht, ehe Sie an das Thema ran konnten und es dann so gestaltet haben?
Dorsch: Weil ich jetzt hier sitze und darüber reden kann?
Weil das Buch in einem sehr ruhigen sachlichen Ton geschrieben ist.
Dorsch: Ist das so?
Würde ich sagen.
Dorsch: Wenn ich den Schluss lese, weine ich jedesmal.
Nachdem Sie dem mutmaßlichen Mörder entkommen waren, nach tagelangen Vernehmungen durch die Polizei, nach dem Fund der sterblichen Überreste ihres Lebenspartners Stefan, kehrten Sie Ende Oktober 2011 allein nach Unterfranken zurück. Sie fanden Halt bei Ihrer Mutter. Wie lange dauerte es, bis man auf Sie zukam oder bis bei Ihnen der Entschluss gereift ist, ein Buch zu machen? Und wie lange hat es gedauert?
Dorsch: Das ging relativ schnell. Im Dezember habe ich schon angefangen. Heute denke ich: Jetzt ist so eine Phase, in der ich noch einmal sehr viel über das Geschehen rede. Aber irgendwann werde ich wieder nach vorne schauen. Ich war auf Sri Lanka auf einer Ayurveda-Kur. Da hat der Arzt gesagt: Hören Sie auf, darüber zu reden.
Das ist ja ein eher ungewöhnlicher Rat von einem Arzt. Normalerweise sagt man: Rede darüber, das erleichtert.
Dorsch: Das habe ich gemacht, monatelang. Jetzt ist es allmählich an der Zeit, zu sagen: Nein, es reicht jetzt mal.
Sie sind sehr kontrolliert an die Öffentlichkeit gegangen. Wie weit haben finanzielle Erwägungen da eine Rolle gespielt?
Dorsch: Ich war ja noch da unten auf Nuku Hiva, als die ganze furchtbare Presse-Berichterstattung losging. Das habe ich alles nur nebenbei mitbekommen. Ich hatte da gar keine Zeit dazu, stand unter Schock, war über eine Woche lang jeden Tag auf der Polizeistation. Die Zeitungen habe ich erst später mal gesehen. Meine Familie hat mich unterstützt. Als ich zurückkam, haben die klar gesagt: Du brauchst jetzt einen Presseanwalt. Der hat geraten: Mach' ein Exklusiv-Interview.
Hat es geklappt?
Dorsch: Ja.
Gerade die englische Presse hat – als man Stefans sterbliche Überreste verbrannt und zerteilt in einem Feuer fand – über Kannibalismus gemutmaßt, was sich dann als Unsinn herausgestellt hat. Wie empfinden Sie es jetzt, wenn elf Monate später immer noch unter der Überschrift „Kannibalen-Insel“ berichtet wird?
Dorsch: Man kann die Presse nicht kontrollieren. Ich persönlich weiß, dass es nicht wahr ist. Das ist für mich das Wichtigste.
Selbst im Vorabdruck für Ihr Buch verwendet die„Bild“-Zeitung stetig den Begriff „Kannibalen-Insel“. Wie geht es Ihnen damit?
Dorsch: So was überlese ich.
Der Tatverdächtige, der sich nach wochenlanger Flucht den Behörden stellte, erzählt: Er habe in Notwehr gehandelt, als ihn Stefan auf der Ziegenjagd angegriffen habe. Ist das ein Versuch, vor einheimischen Freunden und Verwandten besser dazustehen als damit, einen Fremden brutal ermordet zu haben?
Dorsch: Womöglich. Wenn in Deutschland so etwas passieren würde, wenn die Familie oder eigene Freunde so etwas machen würden, würde man eine Notwehrgeschichte auch leichter akzeptieren. Ich glaube, das wäre überall gleich.
Sie haben in einem Ihrer ersten Interviews mal gesagt, es sei Ihnen wichtig, vom Tatverdächtigen selbst zu hören, warum er Stefan ermordet hat. Inzwischen klingen Sie relativ pessimistisch. Glauben Sie nicht mehr daran, dass bei einem Prozess die Wahrheit über den Tathergang ans Licht kommt?
Dorsch: Ich war ja sechs Monate später noch einmal auf der Insel zur Rekonstruktion und bin ihm noch mal begegnet. Das war ganz wichtig für mich für den Verarbeitungsprozess. Da ist mir klar geworden, dass er wohl auf seiner Version von Notwehr beharren wird. Ich glaube einfach, das braucht er, um in dieser Familie weiterzuleben. Ich werde da vielleicht nie die Wahrheit erfahren.
Können Sie damit leben?


Dorsch: Ich muss versuchen, das zu akzeptieren. Ich habe für mich so eine Art Wahrheit gefunden, ich kann mir inzwischen vorstellen, was passiert ist – und das ist wichtig für mich, denn ich hatte zuvor ganz viele offene Fragen. Ich habe immer noch ganz viele, aber wenigstens eine Idee, was passiert sein könnte. Damit kann ich ein stückweit loslassen.
Wie sieht die Idee aus?
Dorsch: Das ist persönlich, da möchte ich nicht darüber reden, und das kann ich wahrscheinlich gar nicht. Der Fall ist ja noch offen. Es laufen noch Untersuchungen, der Prozesstermin steht noch nicht einmal fest.
Sind Sie mit den französischen Ermittlern zufrieden?
Dorsch: Ja, sehr. Im Nachhinein bin ich froh, dass dies auf französischem Hoheitsgebiet passiert ist. Wenn das in einem Land mit geringeren rechtlichen Standards passiert wäre, möchte ich mir gar nicht ausmalen, wie die Untersuchung ausgesehen hätte. Ich habe heute noch Kontakt mit dem Chef der Ermittler. Die tun wirklich alles, um die Wahrheit zu finden.
Sie schildern in Ihrem Buch, wie Sie bei der Rekonstruktion dem mutmaßlichen Mörder begegnen, als die Bluttat nachvollzogen wird und er auf dem Flug vom Untersuchungsgefängnis auf Tahiti zum Tatort nach Nuku Hiva vor ihnen in der kleinen Maschine positioniert wird, um Sie nicht anstarren zu können. Sie können ihn zunächst auch nicht anschauen, gewinnen dann aber Stück für Stück Ihre Fassung zurück und können dem mutmaßlichen Mörder Ihres Lebensgefährten am Ende doch in die Augen schauen.
Dorsch: Ich musste ja diesen Blick noch einmal sehen, damit ich weiß, dass seine Worte „Du stirbst jetzt“ nicht mehr da sind. Das kann man sich gar nicht vorstellen, dass man in solche Augen guckt und hört „Du stirbst jetzt“. Deswegen musste ich da noch einmal hinfahren, um zu wissen: Jetzt kann er mich nicht mehr umbringen. Das war mir ganz wichtig.
Im Prozess werden Sie als Hauptbelastungszeugin wohl eine tragende Rolle spielen, oder?
Dorsch (zögert): Ich habe ja schon Aussagen gemacht. Ob ich noch mal runterfliegen muss, weiß ich heute nicht. Es kann sein. Aber wie ich es verstanden habe, kann mich meine Anwältin auch vertreten.
Wollen Sie das?
Dorsch: Das ist eine neue Idee: Im Grunde interessiert mich nicht, ob der Henro Arihano Haiti im Gefängnis sitzt und wie lange oder wo. Das Leben dieses Mannes interessiert mich nicht – das hätte ich vorher nie gedacht. Mir ist das nicht wichtig, ich kenne den ja gar nicht, ich weiß gar nicht, wer das ist. Mich hat interessiert: Was ist passiert und warum?
Frage: Eine Szene aus dem Buch, die im Gedächtnis bleibt, ist die, als Sie vor dem mutmaßlichen Mörder fliehen und im Unterholz Ihre Schuhe verlieren. Als die bei der Nachsuche im Buschwerk gefunden werden – wie Sie es geschildert hatten – hat das Ihre Glaubwürdigkeit bei den zunächst misstrauischen Polizisten schnell erhöht.
Dorsch: Das ist so eine verrückte Geschichte, dass man denkt: Das kann gar nicht wahr sein. Irgendwann denkt man selbst, das passiert ja gar nicht. Da sitzt man in einer Polizeistation und muss das erst mal realisieren. Wenn dann Beweise gefunden werden wie die Fesseln oder das T-Shirt, das er mir in den Mund gesteckt hatte, dann denkt man: Das ist tatsächlich passiert. Da ist man wirklich erleichtert.
Steigen die Erinnerungen heute noch hoch?
Dorsch: Ich habe vor kurzem noch mal eine Panikattacke gehabt. Dadurch, dass das mit dem Buch alles jetzt noch mal hochkommt, merkt man, dass es noch nicht ganz abgeschlossen ist.
Sie waren mit dem Mann, den Sie 17 Jahre geliebt haben, ausgestiegen. Sie haben Ihren gemeinsamen Traum gelebt und sind daraus durch den Mord an Ihrem Freund brutal herausgerissen worden. Wie sieht Ihr Leben künftig aus – haben Sie eine Idee?
Dorsch (lacht): Nein – ich muss lachen, weil ich immer jemand war, der Pläne und Ziele hatte. Nun habe ich gelernt, dass man im Hier und Jetzt leben muss. Was mir bleibt, ist der Moment jetzt, das lerne ich gerade.
Wie leben Sie jetzt?
Dorsch: Ich bewohne in München ein Zimmer in einer WG, aber wahrscheinlich komme ich nach Würzburg zurück. Ich suche gerade eine Wohnung, am liebsten im Mainviertel, ab November.
Haben die Interviews Sie finanziell abgesichert?
Dorsch: Für Exklusivinterviews habe ich zu Beginn Geld gekriegt, das hat mir eine Starthilfe gegeben, das war wichtig.
Sie hatten ja keine laufenden Einkünfte, mussten Ihren Rückflug nach Deutschland bezahlen, die Anwältin, die Psychologin.
Dorsch: Ich hatte schon auch ein wenig gespart. Aber langfristig muss ich natürlich wieder arbeiten.
Wie gehen Sie mit Mutmaßungen um, die nun sagen: Schau hin, die will Kapital daraus schlagen?
Dorsch: Es ist mir egal, wie manche Leute denken mögen. Ich weiß, warum ich das gemacht habe. Ich habe das mit meiner Psychologin besprochen. Noch ehe ich mit der Idee von dem Buch kam, sagte sie: Schreib alles auf. Als ich wieder auf Nuku Hiva war, bei der Rekonstruktion, habe ich jeden Tag Tagebuch geführt. Das hilft, von der Seele zu schreiben.
Und es hat Ihrem Tag eine Struktur gegeben.
Dorsch: Auch das. Man fragt sich ja schon: Warum soll ich jetzt aufstehen? Es war ganz toll: Als ich zurückkam, bin ich Samstag gelandet. Die ganze Familie war da, das war toll. Montag früh sind sie alle ausgeflogen, zur Schule gegangen, zur Arbeit und hatten ihren Alltag – und ich saß plötzlich da, allein.
Haben Sie eine Zukunftsperspektive?
Dorsch: Noch überhaupt nicht, aber ich habe gemerkt, dass Familie und Freunde das Wichtigste sind – und die sind bei mir in Würzburg.
Wenn Sie heute an Stefan denken, welches Bild ist die prägendste Erinnerung?
Dorsch: Ich habe immer dieses Foto im Kopf, das in der Presse war, wo er so lacht, mit dem blauen Himmel im Hintergrund. Ich denke ganz oft an Stefan, wir waren 17 Jahre zusammen. Irgendwie ist man da fast eins. Man hat so viele Gedankengänge, die zusammen sind, ständig. Das ist vielleicht auch so ein Ding, warum ich nach Würzburg fahre: Das ist die Stadt, in der wir nicht zusammengelebt haben. Da waren wir eigentlich nur selten zusammen. Vielleicht ist es auch so: keine schmerzhaften Erinnerungen.
Sie haben sich zur Yoga-Lehrerin ausbilden lassen. Ist das eine berufliche Perspektive?
Dorsch: Ich praktiziere Yoga wieder. Ich kann mir auch vorstellen, Kurse zu geben, aber das wird nicht mein Hauptberuf werden – glaube ich.
Gibt es irgendwann die Hoffnung auf ein neues Leben, auf eine neue Liebe?
Dorsch: Ich weiß natürlich nicht, was morgen ist. Es ist ja nicht einmal ein Jahr her. Das steht ja auch in meinem Buch, die Frage: Gibt es eine Liebe nach der Liebe? Wir waren 17 Jahre zusammen, wir waren sehr jung, ich weiß es nicht. Ich fände es natürlich schade, wenn nicht noch einmal eine Liebe kommt, ich bin erst 38 Jahre alt. Das Leben kann noch so lang sein. Ich hoffe, dass da irgendwann noch einmal etwas passiert.
Gehen Sie wieder auf Reisen?
Dorsch: Speziell auf die Marquesa-inseln jetzt nicht. Vielleicht in zehn Jahren an die Stelle, an der Stefan gestorben ist. Das ist für mich der Abschiedsort. Ein Grab ist mir nicht wichtig.
Den Traum vom Segeln haben Sie verloren?
Dorsch: Nein, ganz sicher nicht. Ich werde wieder reisen, ich werde wieder segeln gehen.
Viele werden erstaunt sein, wie klar Sie darüber reden können. Das können andere Verbrechensopfer oft nicht.
Dorsch: Das ist ganz wichtig. Das hat die Polizei ja auch gesagt, kurz nachdem das passiert war und ich klare Aussagen machen konnte. Das war wichtig für die Polizei. Ich hatte einen wahnsinnig klaren Kopf die ganze Zeit über, als es passierte. Das weiß ich auch nicht, woher die Kraft kam, aber das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum ich heute hier sitze.
Man hat ein Bild, wie ein Opfer sich verhalten soll. Bei Ihnen ist es anders. Sie haben der Polizei auch gleich gesagt: Ich habe ein Bild von dem Tatverdächtigen gemacht, das muss ich nur auf unserem Boot holen.
Dorsch: Ja, es geht noch weiter. Arihano hatte mir ein T-Shirt in den Mund gestopft. Das habe ich auf der Flucht rausgenommen. Und in dem Moment habe ich gedacht: Das muss ich mitnehmen für eine DNA-Analyse.
So eine rationale Denkweise bringt man in unserem Klischeedenken nur schwer zusammen mit jemandem, der aussteigt, oder?
Dorsch: Ja, aber Sie müssen bedenken: Wir haben das 17 Jahre lang geplant. Stefan hat sich selbstständig gemacht, ich habe spanisch gelernt, wir haben das Schritt für Schritt geplant. Das sollte ja auch jahrelang weitergehen, wir waren keine Träumer. Der finanzielle Puffer war da.
Wie lange wäre das noch weitergegangen.
Dorsch: Noch Jahre, wir wollten nach Australien für ein Jahr, dann nach Asien, keine Ahnung, zwanzig Jahre.
Also noch eine ganze Menge Ziele, zu denen Sie jetzt noch hin können.
Dorsch: Ja, aber jetzt suche ich erst einmal eine Wohnung in Würzburg.