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„Mensch, das muss heute Nacht klappen“

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„Mensch, das muss heute Nacht klappen“

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    Der Fluchtballon: Die Hülle hatten die Wetzels und Strelzyks aus Regenmantelstoff genäht – sie maß 28 Meter in der Höhe, 20 Meter in der Breite. Die Gondel bestand aus einer 1,40 Meter mal 1,40 Meter großen Plattform. Die acht Flüchtlinge kauerten während der Fahrt mit dem Rücken zum 80 Zentimeter hohen Geländer und hielten sich an den vier Gasflaschen in der Mitte fest.
    Der Fluchtballon: Die Hülle hatten die Wetzels und Strelzyks aus Regenmantelstoff genäht – sie maß 28 Meter in der Höhe, 20 Meter in der Breite. Die Gondel bestand aus einer 1,40 Meter mal 1,40 Meter großen Plattform. Die acht Flüchtlinge kauerten während der Fahrt mit dem Rücken zum 80 Zentimeter hohen Geländer und hielten sich an den vier Gasflaschen in der Mitte fest. Foto: FotoS: ARCHIV Günter Wetzel

    Eine Waldlichtung bei Heinersdorf in Thüringen in der Nacht zum 17. September 1979: Auf einer knapp zwei Quadratmeter großen Plattform drängen sich vier Erwachsene und vier Kinder um vier Gasflaschen. Mit einem Heißluftballon wollen sie über die Grenze fliegen. In wochenlanger Heimarbeit haben sie heimlich die Hülle genäht. Um 2.40 Uhr nachts heben Günter Wetzel, Peter Strelzyk und ihre Familien ab. Nach 28 Minuten geht das Gas aus, die Ballonfahrer landen in einem Waldstück. 50 Kilometer südlich. Bei Naila – im Westen!

    Frage: Mit acht Mann in einem selbst konstruierten, selbst genähten Ballon über die Grenze – waren Sie lebensmüde?

    Günter Wetzel: Wir waren unvoreingenommen, blauäugig und hatten keine Ahnung! Man muss vielleicht gleich eines dazu sagen. Den Gedanken, aus der DDR wegzukommen, haben, glaube ich, viele gehabt. Man hat oft darüber geredet, aber hat es meistens wieder verworfen. Es fehlten einfach die Möglichkeiten. Wir haben eine Möglichkeit gesehen und dachten: Das könnte klappen.

    Wie kommt man nur auf eine Ballonflucht?

    Wetzel: Wir hatten Besuch aus dem Westen, der brachte uns eine Zeitschrift mit, in der ein Bericht über das Ballonfahrertreffen von Albuquerque stand. Da sahen wir die vielen großen Ballons und sagten uns: Mensch, das kann doch gar nicht so schwierig sein, so ein Ding zu bauen. Damit ging es los.

    Wenn Sie sagen, man redete oft über die Flucht – dann doch nur unter den ganz, ganz guten Freunden, unter den engsten Verwandten, oder?

    Wetzel: Ja klar. Unter den Verwandten, Freunden, Bekannten, von denen man wusste, was sie für eine Einstellung hatten. Natürlich hat man nie mit Fremden über dieses Thema gesprochen.

    Was hat Sie am meisten weggedrängt? Am stärksten zur Flucht bewogen?

    Wetzel: Am meisten? Das kann man nicht so pauschal sagen. Natürlich könnte ich sagen: die Mauer, die fehlende Meinungsfreiheit – natürlich hat das eine Rolle gespielt. Man hat sich nicht entfalten können, wie man wollte, man ist relativ eingeschränkt gewesen. Aber da muss man sagen: Das ist hier – beruflich – heute auch wieder so, da kann man auch nicht so vorankommen, wie man möchte. Ich musste damals Maurer lernen, was ich nicht wollte, und konnte dann nicht ohne Weiteres dort weg. Dann wollte ich mich selbstständig machen – ich war zu der Zeit Kraftfahrer und dachte, ich mache ein Taxi-Unternehmen auf. Denn Taxen waren damals nur schwer zu bekommen. Man musste vier Wochen darauf warten, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Da kam die Begründung: Nein, geht nicht.

    Wie haben Sie nur den Stoff für die Ballonhülle zusammenbekommen?

    Wetzel: Wir hatten insgesamt ja drei Ballons. Den Stoff für den ersten haben wir – wie man damals sagte – „organisiert“. Den haben wir aus einer Lederfabrik bekommen. Für den zweiten sind wir losgefahren, und unser erstes Ziel war das Konsument-Kaufhaus in Leipzig. Dort haben wir uns vorgestellt als Ingenieure vom Segelsportverein Hohenwarte-Talsperre. Wir haben festgestellt, der Stoff ist für unsere „Segel und Zelte“ am besten geeignet, und haben gleich circa 1000 Quadratmeter gekauft. Für den dritten mussten wir dann tatsächlich durch die ganze DDR fahren und meterweise da mal 20 Meter, dort mal 50 Meter kaufen. Weil der eine Versuch fehlschlug, konnten wir nicht mehr ohne Weiteres nach so großen Mengen fragen.

    Hatten Sie den Ballon irgendwie „getestet“?

    WetzeL: Beim ersten Ballon haben wir versucht, die Hülle aufzublasen, das ging nicht, weil der Stoff nicht wirklich geeignet war. Mit dem zweiten haben wir dann schon eine ganze Reihe Versuche gemacht. Wir sind nachts, nach Mitternacht, auf eine Waldlichtung gefahren, die nur einen Zugang hatte.

    Was war das Schwierigste: das Geheimhalten? Sich nicht verplappern?

    Wetzel: Nein, das war nicht schwierig. Da war sich jeder darüber bewusst, was das bedeuten würde, wenn da jemand dahinterkommt. Was das Schwierigste war? Es gab technische Probleme, dass beispielsweise der Brenner die Leistung brachte, die wir wollten. Dass beim ersten Ballon der Stoff zu durchlässig war. Dass der zweite Ballon zu klein war. Aber all das waren Sachen, an denen wir gearbeitet haben. Natürlich war es wichtig, dass niemand mitbekommt, was wir da tun – unabhängig davon, ob man darüber redet oder nicht. Genäht haben wir Nacht für Nacht.

    Ein Fluchtversuch der Familie Strelzyk war nach einem kurzen Hüpfer gescheitert. Wie war es im Sommer '79? Haben Sie täglich den Wetterbericht gehört und abgewartet, dass irgendwann die Windrichtung stimmt?

    Wetzel: Wir haben mit dem dritten Ballon angefangen. Ich hatte Ende August, Anfang September drei Wochen Urlaub geplant und dann noch mal 14 Tage krankgemeldet, sodass wir im Grunde fünf Wochen Zeit hatten. Wir haben Stoffe eingekauft, ich habe zu nähen angefangen, die anderen haben weiter Stoffe besorgt, parallel dazu haben wir den Segelflug-Wetterbericht vom Bayerischen Rundfunk verfolgt. An dem Tag, an dem wir weg sind, wussten wir früh noch gar nicht, dass wir in der Nacht weg sein werden. Das Wetter war zu dem Zeitpunkt sehr schlecht, es war Tiefdruckgebiet, regnerisch, windig. Im Laufe des Tages schlug das Wetter um, die Front war durchgezogen, es kam Rückseitenwetter – und das ist in der Regel sehr stabil bei konstantem Wind. Das wussten wir, soweit hatten wir uns mit dem Wetter schon befasst. Wir haben uns gesagt: Mensch, das muss heute Nacht klappen. Dann habe ich noch mal Gas gegeben und bin auch erst abends um halb zehn mit Nähen fertig geworden. Es war Samstag, und im Grunde die letzte mögliche Nacht. Am Montag hätte ich wieder zur Arbeit gehen müssen. Und für den November hatte ich die Einberufung zur Volksarmee. Wir standen sehr unter Druck.

    Also hatten Sie auch keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, das letzte Mal die Wohnung abzuschließen und nie wieder zurückzukommen?

    Wetzel: Darüber haben wir uns ohnehin keine Gedanken gemacht. Wir wollten ja weg! Wir hatten den festen Willen, wegzukommen. An dem Tag ging alles so schnell – da hat man sich über solche „Lappalien“ gar keine Gedanken machen können.

    Wie oft haben Sie sich Gedanken gemacht, was Sie jenseits der Grenze erwartet?

    Wetzel: Damit hatten wir uns schon sehr lange auseinandergesetzt. Wir haben Westfernsehen verfolgt, natürlich kann man nicht immer alles glauben, was man sieht. Und wir hatten immer wieder Besuch aus dem Westen, sodass man die Eindrücke miteinander abgeglichen hat. Für uns war eigentlich klar, dass wir hier Arbeit finden werden und ein ganz normales Leben führen können.

    Wie ging es Ihnen während der 28 Minuten?

    Wetzel: Da war eine absolute Ruhe. Auch zuvor. Es war keiner hektisch, es hat keiner Angst gehabt. Natürlich ist man unter Spannung gewesen – aber nicht ängstlich. Wir haben konsequent auf das Ziel hingearbeitet: Wir wollen starten, wir wollen in den Westen.

    Und, wie war der Anfang in Westdeutschland?

    Wetzel: Wir sind vom „Stern“, mit dem wir einen Exklusivvertrag gemacht hatten, in ein Hotel verfrachtet worden. Dort waren wir vier Wochen, danach zehn Tage in Hollywood, sind rumgezerrt worden – ich weiß heute noch nicht, wo wir überall waren. Das war so viel, wir waren so überfordert von der Situation, dass wir gar nicht mehr richtig mitbekommen haben, was alles auf uns eingeprasselt ist. Im Dezember hatten meine Frau und ich die Nase so voll, dass wir gesagt haben: Wir klinken uns jetzt aus. Dann habe ich umgeschult, wir haben gearbeitet, und das normale Leben ging weiter – so wie wir es uns vorgestellt und gewünscht haben.

    Haben Sie irgendetwas aus der DDR vermisst?

    Wetzel: Nein, niemals. Ich hatte auch nie den Gedanken, wieder zurückgehen zu wollen. Ich habe nie etwas nachgetrauert. Auf gar keinen Fall.

    Über Ihre Flucht ist viel geschrieben, erzählt worden. Was ist die größte unwahre Legende dabei?

    Wetzel: Was für mich ärgerlich war, dass Peter Strelzyk sich ein bisschen als Macher in den Vordergrund gestellt hat, als habe er alles gemacht und uns quasi mitgenommen. So war es halt nicht. Die ganzen Konstruktionen stammten von mir. Er hat die ganze Sache zum überwiegenden Teil finanziert, ich habe das Praktische gemacht.

    Wie haben Sie denn den Mauerfall erlebt?

    Wetzel: Das war sehr emotional! Wir waren schon sehr berührt von der ganzen Geschichte. Wir haben damals in Hof gewohnt und schon mitbekommen, wie die ersten Züge aus Prag kamen. Da bin ich, wenn ich Zeit hatte, täglich am Bahnhof gewesen.

    Wann sind Sie das erste Mal wieder über die Grenze gefahren?

    Wetzel: Mitte November, richtig mit Visum.

    Und?

    Wetzel: Ich war total fertig. Man hatte sich mittlerweile so an den Anblick des Westens gewöhnt. Alles sauber, die Straßen, die Ortschaften schön und neu. Und dann kamen wir rüber: die Straßen die totale Katastrophe, die Städte schwarz und grau. Ich war entsetzt.

    Wundert es Sie manchmal, dass nicht mehr DDR-Bürger versucht haben zu fliehen?

    Wetzel: Nein. Es war gefährlich, das darf man nicht vergessen. Heute würde ich auf die Idee, mit dem Ballon zu fliehen, sicher nicht mehr kommen. Um nichts in der Welt würde ich heute da noch mal einsteigen. Wir haben schon auch einiges an Fehlern gemacht. Mit dem Ballon nachts zu starten und zu landen – das geht eigentlich gar nicht. Wir hatten wahnsinnig viel Glück!

    Günter und Petra Wetzel blieben nach der Flucht im Westen und zogen ins oberfränkische Betzenstein. Der Fluchtballon wird bis heute im Heimatmuseum in Naila ausgestellt. Günter Wetzel hat die Details der spektakulären Republikflucht dokumentiert: ballonflucht.de/

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