Als Jürgen Wenning an jenem warmen Sommertag in seine schwarz-weiße Uniform schlüpft, als er sich die gelbe Krawatte umbindet, ahnt er noch nicht, was ihn an Gleis 26 erwartet. Und dass sich dieser Tag für immer in sein Gedächtnis brennen wird. Wenning hat Mittelschicht, Arbeitsbeginn 8.30 Uhr. Er betritt den kleinen, blau-gelben Container, in dem es ein bisschen mieft, setzt sich hinter die Glasscheibe – und wartet, bis der erste Zug einfährt.
Familien mit kleinen Kindern steigen aus, erschöpfte Ältere, junge Männer, denen die Strapazen ins Gesicht geschrieben sind. Flüchtlinge, die über Tage in Ungarn festsaßen und die nun mit Sonderzügen am Hauptbahnhof München ankommen. Polizisten sperren die Wege ab, Helfer strecken Kuscheltiere, Essen und Trinken hin. Menschen winken, klatschen, halten Schilder hoch. „Refugees welcome“ steht darauf, „Flüchtlinge willkommen“.
Die Bilder von Gleis 26 gehen in diesen Tagen um die Welt. Es sind Bilder, die den Beginn der Willkommenskultur in Deutschland markieren. Jürgen Wenning, der Kundenberater der Bayerischen Oberlandbahn (BOB), erlebt hautnah mit, was andere gebannt am Fernseher verfolgen. „Das Besondere war das menschliche Leid, das ich gesehen habe“, sagt er heute. Dolmetscher berichteten dem 53-Jährigen damals von einer Familie, die mit zwei kleinen Kindern vier Monate unterwegs war. Er hat sich vorgestellt, wie es gewesen wäre, wenn er mit seinen drei Töchtern hätte fliehen müssen. Es sind Bilder, die Wenning nicht mehr aus dem Kopf bekommt. „Das nimmt man mit nach Hause.“
Rund ein Jahr ist seitdem vergangen. Ein Jahr, in dem die Flüchtlingskrise die Nachrichten dominiert hat: Angefangen bei den Tausenden, die Tag für Tag auf den Münchner Hauptbahnhof einströmen; so viele, dass irgendwann alle Notunterkünfte in der Landeshauptstadt belegt sind und Flüchtlinge am Boden der Schalterhalle schlafen. Die Freiwilligen, die rund um die Uhr im Schichtbetrieb helfen, sind irgendwann am Limit, ebenso wie die Stadt. Oberbürgermeister Dieter Reiter setzt einen Hilferuf ab. Die Kanzlerin sagt: „Wir schaffen das.
“ Und sie wird diesen Satz in den Monaten danach mehrfach wiederholen. Auch als die Stimmung in der Bevölkerung zu kippen droht; auch als von der Willkommenskultur kaum noch etwas zu spüren ist; auch nach den Bluttaten der vergangenen Wochen – nach der Axt-Attacke eines 17-jährigen Asylbewerbers im Regionalzug bei Würzburg, nach dem Selbstmordanschlag von Ansbach, wo sich ein 27-jähriger Syrer in die Luft sprengt.
Von den dramatischen Szenen, die sich hier, am Hauptbahnhof, vor einem Jahr abgespielt haben, von den Menschenmassen, die angekommen sind, zeugt heute nichts mehr. Der größte Bahnhof Bayerns ist an diesem Tag wie immer: laut, schmutzig und voller Menschen. Bundespolizisten patrouillieren in ihren dunkelblauen Uniformen über das Gelände. Eine Gruppe dunkelhäutiger junger Männer mit Rucksäcken läuft zur Informationsstelle der Bahn, einer fordert in schlechtem Englisch eine Auskunft. Die Szene wirkt wie ein Relikt aus dem Spätsommer 2015 – nur im Kleinen.
Auch der Flüchtlingsstrom am Münchner Hauptbahnhof hat klein angefangen. Anfangs zählte die Polizei zwischen 150 und 300 Ankömmlinge am Tag, schlagartig waren es 5000 an einem Tag. Der 12. September 2015 gilt als Höhepunkt: Mehr als 12 000 Flüchtlinge erreichten den Hauptbahnhof innerhalb von 24 Stunden.
Für Polizeihauptkommissar Artur Mitterer und seine Kollegen spiegelt sich die Flüchtlingskrise vor allem in Zahlen wider. Zum Beispiel, dass 2015 rund 112 000 Flüchtlinge am Hauptbahnhof angekommen sind. Und dass in diesem Jahr bisher nicht einmal 2000 registriert wurden. Und dann sind da die Strukturen, die Organisation, auf die es ankommt, erklärt Mitterer. Denn parallel zum Zustrom der Flüchtlinge mussten Touristen, Pendler und Schulklassen ihre Züge erreichen. „Ein großes Lob, dass das alles so reibungslos funktioniert hat“, sagt Mitterer heute.
Zahlen und Strukturen sind das eine. Aber wie hat sich der Hauptbahnhof ein Jahr nach der massenhaften Ankunft der Migranten verändert? Hauptkommissar Mitterer betont: „Die Kriminalität verändert sich nicht.“ Er sagt: „Kriminalität hat nichts mit Flüchtlingen zu tun.“ An einer gewissen Anzahl von Delikten seien Asylbewerber beteiligt, „das liegt aber nicht am Flüchtlingszustrom“, meint der stellvertretende Leiter der Polizeiinspektion 16, die an den Hauptbahnhof angrenzt.
Dennoch haben die Beamten seit Beginn der Flüchtlingswelle ein neues Problem am Hauptbahnhof registriert: den Drogenhandel, der vor allem im südlichen Bahnhofsviertel deutlich zugenommen hat. Es sind vorwiegend Schwarzafrikaner, die hier mit Cannabis-Produkten handeln, berichtet Mitterer. Das Gebiet der Drogenhändler reiche rund um die Bayer- und Schillerstraße, über die Schwanthalerstraße bis hin zur Landwehrstraße. In den Ecken zwischen den Hotels, Casinos und Discountern hätten sie genügend Gelegenheiten, ihre Ware loszuwerden.
Seit April schickt die Polizei dreimal pro Woche eine Streife in das betroffene Viertel. „Wir wollen Offensive signalisieren“, sagt Mitterer. Es geht darum, die Täter zu fassen, vor allem aber an die Hintermänner heranzukommen. Mitterer kennt sich aus in dem Milieu: „Ich arbeite seit 1992 in München. Damals war der Balkankrieg, da kam eine Drogenwelle zu uns nach Deutschland. Mitte der 90er gab es besonders viele Drogen im Englischen Garten, teilweise in Baumbunkern. Und jetzt hat es eben den Hauptbahnhof getroffen.“ Die Delikte hätten sich nicht verändert, sagt Mitterer, nur der Ort.
Trotz allem sind die Folgen der Flüchtlingswelle in München weniger dramatisch als in anderen Städten. Straftaten wie in der Silvesternacht in Köln, wo Migranten hunderte Frauen belästigten, bestahlen und begrapschten, kennt Mitterer hier nicht. Aber: „Die Aggression betrunkener Asylbewerber gegenüber Polizisten steigt.“ Seine Kollegen werden bespuckt und beschimpft, sagt er. Bundespolizist Simon Hegewald sieht dabei ein weiteres Problem. „Reisende fühlen sich manchmal genötigt, sich verbal und handgreiflich bei unserem Einsatz einzumischen.“ Er wünsche sich mehr Vertrauen von den Menschen am Bahnhof in die Arbeit der Polizei.
Seit diesem Jahr führen einige Polizisten deshalb probehalber Body-Cams mit sich – Kameras, die an der Uniform befestigt sind. Sie sollen in brenzligen Situationen angeschaltet werden können.
Für Felix Holder ist der Hauptbahnhof in erster Linie der Ort, an dem er sein Geld verdient. Seine Eltern betreiben den Fahrradverleih „Radius Tours“ am Starnberger Flügelbahnhof. Im Sommer 2015 standen die Leute vor dem Geschäft Schlange – aber nicht, um ein Fahrrad auszuleihen oder eine Tour zu buchen. Flüchtlinge warteten hier nach ihrer Ankunft auf Essen und Trinken, auf die medizinische Untersuchung – vor allem aber darauf, ein neues Leben starten zu können. Holder sagt: „Die Zäune direkt vor unserem Laden waren natürlich für unser Geschäft ein Problem.“ Einbußen – das ist sein Fazit.
Ein paar Straßen weiter stehen Colin Turner und Marina Lessig in dem Laden, der nach den Hilfsaktionen am Bahnhof entstanden ist. Hier gibt es Möbel für Asylbewerber. Auch Deutschkurse werden in den Räumen angeboten und Ausflüge organisiert. „Der Laden ist Anlaufpunkt für die Geflüchteten“, erklärt Lessing, die Vorsitzende des Vereins „Münchner Freiwillige – Wir helfen“. Die beiden sind stolz auf das, was von München ausgegangen ist, auf die Hilfsbereitschaft, die sich innerhalb weniger Stunden entwickelt hat. Kontakt zu den Flüchtlingen von damals haben Lessig und Turner nicht mehr. Ihre Arbeit habe sich von der Akuthilfe zu einer Integrationshilfe gewandelt. Turner arbeitet beispielsweise an einem Paten-Projekt für homosexuelle Asylbewerber.
Für Jürgen Wenning, den Kundenberater der BOB, ist der Hauptbahnhof vor allem der Ort, an dem alles begonnen hat; der Ort, an dem Geschichte geschrieben wurde. Er sagt: „Das wird uns in 20 Jahren noch begleiten, wie damals der Mauerfall.“ Der Sommer 2015 hat auch bei Wenning seine Spuren hinterlassen. Er verfolgt die Nachrichten heute mit anderen Augen. Weil er weiß, welche Auswirkungen internationale Konflikte haben können, weil er ahnt, wie schnell die nächste Flüchtlingswelle da sein könnte.
Er sagt: „Wir sind vorbereitet.“ Wie sich die Flüchtlingskrise lösen lässt? Das sei Aufgabe der Politik.
Als er an diesem Morgen in seine schwarz-weiße Uniform schlüpft und sich die gelbe Krawatte umbindet, ahnt Wenning noch nicht, wie schnell er wieder an jenen Tag vor einem Jahr erinnert wird. Eine Familie, zwei Erwachsene und zwei Kinder, stehen vor seinem Fenster. In gebrochenem Deutsch fragen sie nach dem richtigen Zug. Die Familie hat eine Unterkunft in Regensburg zugewiesen bekommen. Wenning hilft ihnen, wie damals im Sommer an Gleis 26.