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Was in den Wipfeln wimmelt

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Was in den Wipfeln wimmelt

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    Über den Wipfeln: Mit einem Heißluftschiff erkundete Andreas Floren im Frühjahr 2003 die Spinnen- und Insektenwelt der Baumkronen im Leipziger Auwald. Der rote Rüsselkäfer unten lebt auf Palmen in Südostasien. DPA
    Über den Wipfeln: Mit einem Heißluftschiff erkundete Andreas Floren im Frühjahr 2003 die Spinnen- und Insektenwelt der Baumkronen im Leipziger Auwald. Der rote Rüsselkäfer unten lebt auf Palmen in Südostasien. DPA Foto: FotoS:

    Vorgestern waren es 150 Arten. Gestern waren es 150 Arten. Und heute werden es wieder 150 Arten sein, rein statistisch gesehen. Jeden Tag sterben auf unserem Planeten 150 Tier- und Pflanzenarten aus. Es ist die offizielle Zahl, die seit dem Potsdamer Treffen der G8-Staaten vor zwei Jahren kursiert. Insgesamt sollen 16 300 Arten laut Weltnaturschutzorganisation IUCN weltweit vom Aussterben bedroht sein – deshalb haben die Vereinten Nationen zur Warnung und Mahnung das 2010 zum Jahr der Biodiversität erklärt.

    Gestern 150, heute 150, morgen 150. Das klingt nach Massensterben und ökologischer Katastrophe. Und das Erschreckende ist: Keiner weiß, wie viele Arten es gibt. Niemand kann sagen, welche Funktion sie im Ökosystem alle haben. Niemand weiß, welche Auswirkungen ihr Verschwinden für den Menschen hat. Selbst Biologen können allenfalls erahnen, was Tag für Tag verloren geht. In den Meeren und in den tropischen Regenwälder vor allem krabbelt, kreucht und fliegt eine unbekannte Vielfalt an Arten. Wie zählt man die?

    Windstill sollte es sein, wenn in den Wäldern das Sammeln beginnt. Dann stellt sich Andreas Floren mit einem Spezialgerät unter den Baum und lässt zehn Minuten lang Nebel aufsteigen. Pyrethrum sprüht er ins Geäst, ein natürliches Gliedertiergift aus Chrysanthemen. Für Warmblütler ist das Zeug ungiftig, Käfer, Ameisen und andere Insekten fallen vom Blatt. Das Pyrethrum schädigt das Ökosystem nicht weiter: Nach wenigen Stunden hat sich der Giftstoff zersetzt und aufgelöst, der Zweck jedoch ist erfüllt: In den Plastikplanen und aufgespannten Trichtern unten am Stamm sind – benebelt und betäubt – alle kleinen und kleinsten Baumbewohner versammelt.

    In Alkohol getränkt, getrocknet und präpariert, bildet die Baumkronen-Lebensgemeinschaft für die Ökologen einen wertvollen Datensatz. Gut vier Million Individuen, von millimeterkleinen Spinnchen bis zu zehn Zentimeter langen Zikaden, hat Andreas Floren bei Hunderten von Benebelungen zusammengetragen. In seinem Büro am Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiolgie im Würzburger Biozentrum stapeln sich Schubladen und Kästen voller aufgepinnter Insekten aus malaysischen, osteuropäischen und fränkischen Wäldern. Ein Zeugnis von 20 Jahren Forschung – und ein kleines Dokument der Vielfalt des Lebens in den Kronenregionen.

    Knapp zwei Millionen Tier- und Pflanzenarten sind bislang beschrieben worden – wohl nur ein Bruchteil der gesamten Artenzahl der Erde. Vor 30 Jahren noch ging die Fachwelt von vielleicht zwei bis maximal drei Millionen Arten insgesamt aus. Dann marschierte der Biologe Terry Erwin mit Insektengift in den Urwald von Panama, benebelte Bäume und sammelte im Kronendach einer einzigen Baumart über 150 Käferarten. Von den Käfern ausgehend, schloss Erwin auf 400 Insektenarten in den Wipfeln des besprühten Lindenbaums. Mit den Insekten am Stamm besiedeln nach Erwins Rechnung 600 Insektenarten eine Baumart in den Tropen. Multipliziert man die geschätzt etwa 50 000 bekannten und unbekannten tropischen Baumarten mit 600, bekommt man ein kaum fassbares Ergebnis: Allein in den tropischen Regenwäldern leben laut Erwin 30 Millionen verschiedene Insekten- und Spinnenarten.

    Heute reichen die Schätzungen der Biologen von 2,5 Millionen bis zu 100 Millionen Arten an Pflanzen und Tieren. Zahlen zwischen 12,5 und 15 Millionen Arten kommen der Wirklichkeit vermutlich am nächsten, sagt Andreas Floren. „Die Erde ist also von einem Millionenheer von Organismen bewohnt, die noch niemand je zu Gesicht bekommen hat und deren Funktion im Naturhaushalt völlig im Dunkeln liegt.“

    Im Regenwald von Borneo hat Andreas Floren die Methode, die Pionier Terry Erwin in Panama als Erster anwandte, vor 20 Jahren für seine Doktorarbeit verfeinert – und auf sehr viele Baumarten angewandt. Er fand die Ergebnisse des amerikanischen Insektenforschers bestätigt: Das Leben in den Tropen spielt sich vor allem in den Baumkronen ab.

    Die Hälfte der Arten, wahrscheinlich weit mehr, ist hoch oben über dem Waldboden zu Hause. Doch wie die gigantisch große Wohngemeinschaft in den oberen Etagen funktioniert? Wie die Tiere, Mikroben, Pflanzen, Wirtsbäume miteinander in Verbindung stehen? Der Wissenschaftler schüttelt den Kopf. „Man weiß nicht, welche Funktion die einzelnen Arten haben.“ Genau diese Informationen aber wären wichtig, sagt Floren. Es wären die nötigen Informationen um zu verstehen, wie die Natur funktioniert. „Zehntausende, Hunderttausende von Tieren in einer Baumkrone – das kann man bei der Betrachtung des Ökosystems nicht einfach außer Acht lassen.“

    Wie funktioniert Natur? In Deutschland gibt es rund 110 Ameisenarten. Auf Borneo sammelte Floren in einer einzigen Baumkrone 61 verschiedenartige Ameisen. Und immer, wenn er einen nächsten Baum benebelte, fing er Hautflügler und Gliedertiere auf, die der Wissenschaft bis dato gänzlich unbekannt waren. 70, 80, manchmal sogar 100 Prozent in den verschiedenen Gruppen, die der Ökologe von den Baumkronen holte, hatte zuvor noch kein Mensch beschrieben. „Bei jeder Benebelung haben wir einen fast kompletten Satz neuer Arten gefunden.“

    Doch was, wenn der Mensch eingreift? Wie unterscheiden sich die Ökosysteme natürlicher, unberührter Wälder von den bewirtschafteten Waldgemeinschaften? Floren verglich das Leben in Baumkronen im polnischen Bialowieza-Nationalpark, einem der letzten Urwälder Mitteleuropas, mit der Insekten-Fauna deutscher Wälder. Überraschendes Ergebnis: In den Wipfeln unserer Wälder leben nicht unbedingt weniger Gliedertiere. Die Gemeinschaften in Ur- und Wirtschaftswäldern sind jedoch völlig anders zusammengesetzt. Im Urwald, sagt Floren, gibt es keine Dominatoren. Keine sogenannten Schädlinge, die in Massen auftreten, Mitbewohner verdrängen und alles kahl futtern. „Ein Wirtschaftswald wird zusammengefressen, ein Urwald nicht.“

    Wer bei uns weiß, was in der einen Kastanie kreucht und fleucht, kann davon ausgehen, dass die Kastanie daneben ähnlich bevölkert ist. Es ist die Idee der „ökologischen Nische“: Jede Nische wird von einer Tierart besetzt, alle Konkurrenten werden verdrängt. Auf einem Baum Prozessionsspinner? Auf allen Bäumen Prozessionsspinner.

    In den Tropen hat Floren etwas ganz anderes beobachtet: „Man kann nicht vorhersagen, was man in einer Baumkrone findet, auch wenn man einen Baum derselben Art schon untersucht hat.“ Ob viele Ameisen, ob zehn oder 20 Prozent Käfer, ob viele Motten – welche Tiergruppen im Wipfel eines bestimmten Baumes sitzen und wie zahlenmäßig ihr Verhältnis ist – das lasse sich durchaus abschätzen, sagt Floren. „Aber welche Arten der einzelnen Tiergruppen sich tatsächlich in dem Baum befinden und welche Gemeinschaften sie bilden, kann man nicht vorhersagen.“ Im Urwald kann sich die Ameisengemeinschaft auf zwei benachbarten Bäumen der gleichen Art, die auf demselben Boden wachsen, gleich viel Sonnenlicht und Feuchtigkeit bekommen, völlig unterscheiden. „Die Ameisengemeinschaften lassen sich nicht von zufällig zusammengesetzten Gemeinschaften unterscheiden.“ Ein Phänomen, das der bisherigen Vorstellung der Biologen, dass unter gleichen Bedingungen gleiche dauerhafte Gemeinschaften entstehen, widerspricht.

    Inwieweit beeinflusst dies die Theorie der „ökologischen Nische“? Passt die nur auf die vom Menschen gestörte, beeinflusste Natur? In den Wäldern unserer Breiten jedenfalls bestehen nicht nur die Ameisengemeinschaften aus weit weniger Arten als in den Tropen. Die Wohngemeinschaften in den Regenwaldbäumen sind das Ergebnis von 20, 80, vielleicht 100 Millionen Jahren Evolution. Über Millionen von Jahren herrschten dort stabile Verhältnisse – Pflanzen und die Tiere waren nicht zur Mobilität gezwungen. In Mitteleuropa mit seinen Eiszeiten war vor 8000 Jahren noch Tundra, entsprechend jung sind die Wälder. „Unsere Bäume werden quasi gerade erst wiederbesiedelt“, sagt Floren.

    Mit die größte Artenvielfalt auf Bäumen in Europa finden die Ökologen auf Eichen. Der Würzburger Kronenforscher betrachtete vor ein paar Jahren die Wipfel der Spessarteichen von oben. Mit einem Heißluft-Luftschiff flog der Zoologe über den Eichenhallwald bei Weibersbrunn, benebelte 400 Jahre alte Bäume, hängte Fallen ins Blätterwerk. So mühsam das Sammeln, so komplex ist die Interpretation. Die Ökologie unserer Wälder lasse sich mit dem Leben in den unberührten Waldgebiete der Tropen kaum vergleichen, weiß Floren aus seinen Vergleichsstudien.

    Mit seiner Forschung, die aufwändig ist und spektakulär, kann Floren die Medien begeistern: Geo, Stern, Spiegel, das Fernsehen fragten in den vergangenen Jahren regelmäßig an und begleiteten den Zoologen bei seinen Luftschifftouren und Benebelungsaktionen. Eine feste Stelle bekommt er mit seiner Arbeit nicht. Seit der Promotion hangelt er sich – wie so viele Wissenschaftler, „das ist ja leider Usus“ – von einem befristeten Forschungsprojekt zum nächsten.

    Ist das Desinteresse? Will keiner verstehen, wie die Ökosysteme der Natur wirklich funktionieren? Will keiner wissen, welche Folgen die Zerstörung des Regenwalds für den Planeten wirklich haben? „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass bei uns in Europa die Effekte erst einmal nicht so dramatisch sind“, sagt Floren. „Wenn bei uns der Wald zerstört wird, wächst er nach und erholt sich wieder.“ Die sogenannten Schadarten setzen – ganz nützlich – alles zurück auf null, dann regelt sich das System wieder ein. Tropische Wälder aber, warnt der Biologe, lassen sich nicht in vergleichbarer Weise wie in Europa wirtschaftlich nutzen. Was im Regenwald abgeholzt und zerstört wird, ist zerstört. Meist für immer.

    Das Jahr der Biodiversität

    Die Vielfalt des Lebens wird Biodiversität genannt. Sie umfasst drei Ebenen: die Vielfalt der Ökosysteme, die Artenvielfalt und die genetische Diversität von Individuen einer Art. Die Vereinten Nationen haben 2010 zum „Internationalen Jahr der Biodiversität“ erklärt, um auf den weltweit akut drohenden Verlust der biologischen Vielfalt von Tieren und Pflanzen aufmerksam zu machen.

    Wie viele Lebewesen heute auf der Erde leben weiß niemand. Ökologen gehen von rund 15 Millionen Arten aus. Bekannt und beschrieben sind rund 1,8 Millionen, auf ihre Gefährdung hin untersucht wurden bisher 40 000. Die biologische Vielfalt ist nicht gleichmäßig über die Erde verteilt. Rund 70 Prozent aller Arten finden sich in den 17 „Megadiversitätsländern“ – in Gebieten höchster Artenvielfalt der Tropen und Subtropen. Bei den höheren Pflanzen beispielsweise steht allen voran Brasilien mit rund 56 000 Arten. Deutschland mit knapp 2700 höheren Pflanzenarten ist dagegen vergleichsweise arm.

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