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WINNENDEN: Winnendens Wunden

WINNENDEN

Winnendens Wunden

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    "Wenn ich einen Traum habe, dann den, dass in unserer Gesellschaft Werte wieder eine größere Rolle spielen."

    Astrid Hahn
    Rektorin der Albertville-Realschule

    Vielleicht hatte sie schon eine Ahnung, als sie an jenem 11. März 2009 eine SMS in ihr Handy tippte, die Nummer der Tochter wählte und auf Senden drückte. „Alles o.k.?“ Eine kleine Frage. Ein paar Buchstaben nur, und zwei als Antwort hätten ihr genügt: Ja. Aber es kam kein Ja. Es kam nichts. Stunden später erfuhr die Ethiklehrerin Gisela Mayer (52), dass ihre 24-jährige Tochter Nina tot ist. Die Referendarin an der Albertville-Realschule in Winnenden war eines der Opfer des 17-jährigen Amokläufers Tim K., der bei seinem Fanal in seiner ehemaligen Schule und später auf der Flucht insgesamt 15 Menschen erschoss. Mehr Informationen und Hintergründe zum Amoklauf in Winnenden finden Sie hier. Ein Jahr ist das jetzt her, „doch es ist für mich, als sei Nina erst letzte Woche gestorben“, sagt Mayer. Und hätte sie ihre jüngere Tochter nicht, die sie liebevoll Ibi nennt und die am 10. März 15 Jahre alt wird, „dann wäre mein eigener Lebenswille verbraucht. Sie ist es, die mich antreibt“. Wer Winnenden beschreiben will, darf sich gerne der Romantik bedienen. Hübsches Fachwerk, verträumte Winkel, gepflasterte Straßen. 28 000 Einwohner leben hier, die Stadt Stuttgart ist ganz nah – und doch fern. Beschaulichkeit, vielleicht beschreibt dieses Wort das Leben in der Fußgängerzone ganz gut. Über dem Brunnen vor dem alten Rathaus thront eine Figur der Justitia, so als wache sie über diesen Ort unweit des Schwäbischen Waldes. Doch wo war die Gerechtigkeit an jenem Tag, als ein Teenager die ungesicherte Waffe seines Vaters aus dem Kleiderschrank nahm, die Patronenbox dazu und 15 Menschen, die meisten Schüler noch, hinrichtete? An diesem Tag starb diese Stadt. Denn das Winnenden von früher existiert nicht mehr, der Name ist zum Synonym geworden. So wie Leimen für Boris Becker steht, Eschede für das Zugunglück, so steht Winnenden für Amoklauf. Im neuen Rathaus sitzt Oberbürgermeister Bernhard Fritz. Auf die Frage, was sich in seiner Stadt verändert hat, sagt er: „Ich habe schon das Gefühl, dass sie nicht mehr so schrill,  so  laut  ist.  Es  wird  behutsamer  mit- einander umgegangen.“ Aber er glaubt auch, „dass die Stadt nicht ewig trauern kann“. Auch wenn die Zeit zäh dahintropft wie Ahornsirup, so werde sie doch dafür verantwortlich sein, „dass es langsam zu einer Normalität kommt“. Aber normal ist hier noch lange nichts, und jetzt, vor dem Jahrestag der Tat, werden alle Bilder, alle Gefühle, das Leid, die Trauer, die Angst, wieder hochgespült werden aus den tiefen Kammern der Seele, in denen sie leidlich verräumt waren. 15 Tote. Und viele Opfer, die weiterleben müssen. Noch immer sind 60 bis 70 Angehörige in psychologischer Betreuung. „Ich hoffe“, sagt Astrid Hahn (58), „dass wir den Gedenktag gut und unbeschadet überstehen. Er ist ein wichtiger Punkt in der Verarbeitung.“ Hahn ist seit sieben Jahren Rektorin der Albertville-Realschule, sie wirkt zerbrechlich wie chinesisches Porzellan, aber sie ist eine starke Frau. Sie hat damals alle Toten gesehen, und dennoch versucht sie, „jeden Tag dem Leben etwas Positives abzugewinnen“. Es fällt ihr schwer, sie hofft, „dass die Bilder irgendwann verblassen“. Die Eltern des Täters, der sich nach dem Morden selbst erschoss, haben sich nie direkt an sie gewandt. „In der Anfangszeit hätte ich mir das gewünscht. Jetzt nicht mehr.“ Astrid Hahn spricht an diesem Februarvormittag viel von der Zukunft, die Erinnerung schmerzt zu sehr. So ist der Blick nach vorn ein Selbstschutz, am Revers ihres Blazers steckt ein kleiner Button mit der Aufschrift: „Ich habe einen Traum“. Martin Luther Kings Leitspruch haben sie sich als Motto gegeben an der Schule, und ihr ganz persönlicher Traum sei der, „dass in unserer Gesellschaft Werte wieder eine größere Rolle spielen und dass sich Eltern wieder mehr Zeit für ihre Kinder nehmen. Die Schule kann nicht die Reparaturanstalt der Familie sein.“

    „Gedenktage gibt es für Goethe oder Schiller, aber doch nicht für das eigene Kind.“

    Gisela Mayer,
    Mutter eines Opfers

    Nach der Tat hat sich eine Lehrerin versetzen lassen, drei Kollegen haben den Dienst quittiert. Astrid Hahn hat weitergemacht: „Mir wurde eine sehr schwere Aufgabe gestellt. Ich danke meiner Familie und Gott, dass sie mir die Kraft dafür geben.“ Hinter der Brille sammeln sich ein paar Tränen. Derzeit werden die 592 Schüler von 50 Lehrern in einer Containerschule unterrichtet, das alte Hauptgebäude an der Albertviller Straße steht leer und verlassen da. Es ist ein unschuldiger Ort, und die Fenster mit den halb heruntergelassen Jalousien wirken wie müde Augen. Die Pläne für den Umbau sind fertig. Die Schule wird ein anderes Gesicht erhalten, vor den alten Eingang kommt ein moderner Anbau. 5,6 Millionen Euro sind veranschlagt, drei Millionen schießt die Bundesregierung zu. Hahn sagt, wie wichtig es für alle sei, an diesen Ort zurückkehren zu können. Rund 800 000 Euro werden die Sicherheitsmaßnahmen kosten: „Wir wollen keine Festung, aber wir benötigen mehr Sicherheit an Schulen“, sagt die Rektorin. Ein vernetztes Kommunikationssystem mit jedem Klassenzimmer, „das ist nicht überzogen, das ist wichtig“. Im August soll Baubeginn sein, die Fertigstellung ist für September 2011 anvisiert. Am 11. März 2010 werden zur Tatzeit um 9.33 Uhr in ganz Winnenden die Kirchenglocken läuten. Sie haben diesen Tag lange vorbereitet, es gab eine Arbeitsgruppe. Die Stunden morgens sollen den Schülern, den Lehrern, den Eltern, den Angehörigen allein gehören: „Wir wollen zur Ruhe kommen, nachdenken, trauern, Kraft schöpfen“, sagt Hahn, und sie appelliert an die Reporter, an die Kamerateams, dies zu respektieren. Für jedes Opfer wird ein Gedenkstein zu einem „Weg in die Zukunft“ gelegt, und zum offiziellen Teil um 11 Uhr wird Bundespräsident Horst Köhler sprechen, der SWR überträgt live. Die Polizei will versuchen, „eine optische Wiederholung“ des Tattages zu vermeiden, wie Kommissar Ralf Michelfelder sagt. Das heißt: keine kreisenden Hubschrauber, so wenig Einsatzfahrzeuge wie möglich, viele Polizisten in Zivil. Doch sie müssen wachsam sein, denn der 11. März könnte Nachahmer reizen. „Darauf sind wir eingestellt“, so Michelfelder. „Dieser Tag wird eine große Herausforderung“, sagt Thomas Weber, der die psychologische Hilfe in Winnenden koordiniert. „Ängste und enttäuschte Hoffnungen werden präsent sein wie am ersten Tag. Wichtig ist, dass wir der Opfer gedenken und nicht der Tat. Der Tag wird eine Zäsur sein, aber damit ist die Verarbeitung lange nicht abgeschlossen.“ Der gebürtige Kölner hat bislang „elf Monate hoher Erregung“ erlebt, aber er macht der Stadt und ihren Menschen ein Kompliment: „Die Winnender haben allen ein Wir-Gefühl gegeben: Wir packen das zusammen.“ Angehörigen wie Gisela Mayer fordert der 11. März 2010 alles ab, wieder einmal. „Ich wehre mich gegen den Gedanken, dass Nina tot ist“, sagt die Frau, die so klar, so nüchtern spricht, und in der doch so viele Gefühle toben: „Gedenktage gibt es für Goethe oder Schiller, aber doch nicht für das eigene Kind. Diese Vorstellung ist so wahnsinnig schmerzhaft.“ Nur kurze Zeit nach der Tat hat Gisela Mayer ihren Beruf wieder aufgenommen. Der Beruf, den Nina hatte ergreifen wollen: Lehrerin. „Ich habe nicht lange gezögert, ich wollte den Abstand nicht zu groß werden lassen. Schließlich habe ich auch eine Verantwortung meinen Schülern gegenüber.“ Und dann sagt sie einen Satz, der kalt klingt und doch so wahr ist: „Es ändert nichts, es ist ja keine Grippe.“ Es ist zu spüren: Diese Verletzung im Innern wird nie heilen. „Das alte Leben gibt es nicht mehr“, sagt sie, aber im neuen verspürt sie eine Mission. Sie ist Sprecherin im „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden – Stiftung gegen Gewalt an Schulen“, sie will etwas bewirken. Sie will mit ihrer Mahnung „in die Köpfe derer, die nicht betroffen sind“. Die Rangordnung der diskutierten Themen in Deutschland ist etwas, „was uns Probleme macht“. Die Pädagogin möchte nicht, dass zur Tagesordnung übergegangen wird. So fordert das Bündnis ein Verbot von Killerspielen und setzt sich für eine Neufassung des Waffengesetzes ein. Für Gisela Mayer, die in Würzburg aufgewachsen ist, aber geht es um mehr, um das Innere. Sie will mit dazu beitragen, dass Menschen, „die nicht zurechtkommen mit dieser Welt“, ein Weg aufgezeigt wird. Dabei ist Zuwendung einer ihrer zentralen Begriffe. „Zuhören ist die Kunst“, sagt die 52-Jährige. Sie erwartet nicht von Eltern, dass sie sich zehn Stunden am Tag um die Kinder kümmern, „aber wenigstens diese eine Stunde muss ich mich zuwenden im wörtlichen Sinn und nicht beim Spaziergang mit dem Kind gleichzeitig mit dem Handy telefonieren“. Sie beschreibt ihre Forderung in einem einzigen Wort: Verantwortung. Gisela Mayer hat ihren Schmerz jetzt zwischen zwei Buchdeckel eingeklemmt und sich so selbst ein wenig befreit: „Die Kälte darf nicht siegen“, heißt das 240 Seiten starke Werk, mit dem sie an „die Basis der Menschlichkeit“ erinnern möchte. Am Jahrestag wird die dunkelhaarige Frau wohl auf den Friedhof gehen, und auch den internen Akt der Gedenkfeier am Morgen will sie besuchen, „der öffentliche Teil ist für mich unwichtiger als viele denken“. Sie weiß, dass sie stark sein muss, besonders in dem Moment, wenn die Glocken an die Tatzeit erinnern, „denn das war der letzte Moment ihres Lebens“. Ninas Leben. Das Leben einer jungen Frau, 24 Jahre erst, die Deutsch, Kunst und Religion unterrichtete. Ihre Mutter Gisela Mayer glaubt, dass das kein Zufall ist. Religion war und ist in ihrer Familie ein wesentlicher Punkt. Religion ist der Katholikin ein kleiner Trost. Sie glaubt nicht an die Endgültigkeit des Todes. Sie glaubt an ein Wiedersehen. „Wenn ich diese Überzeugung nicht hätte, dann wäre dieser Schmerz überhaupt nicht zu ertragen.“

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