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VENEDIG: Venedig darf nicht sterben

VENEDIG

Venedig darf nicht sterben

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    Die Proteste gegen die Touristenmassen sind mittlerweile allgegenwärtig in Venedig. Hier ein „Venexodus“-Transparent an der Rialto-Brücke.
    Die Proteste gegen die Touristenmassen sind mittlerweile allgegenwärtig in Venedig. Hier ein „Venexodus“-Transparent an der Rialto-Brücke. Foto: Foto: Andrea Merola, dpa

    Optimisten, das muss man ganz offen sagen, sehen anders aus. Giovanni Di Giorgio ist 22 Jahre alt und gelernter Geiger. Er hat das Leben vor sich, liebt die Musik. Aber wenn er in seiner Heimatstadt unterwegs ist, dann spürt er vor allem ein Gefühl der Leere. Di Giorgio kann dieses Gefühl auch nicht exakt erklären, es hat mit der anonymen Masse auf den Gassen zu tun, den Leuten, die meist nur für ein paar Stunden durch Venedig streifen wie auf einem Raubzug, dessen Beute morbide Schönheit ist.

    „Ich fühle mich von meiner eigenen Stadt abgewiesen“, sagt er. Di Giorgio träumt von einem leeren, verlassenen Venedig. Auf den Markusplatz, das von etwa 30 Millionen Touristen im Jahr besuchte Wahrzeichen der Stadt, wagt er sich nur im Dunkeln. „Wenn alle Bars geschlossen sind und die Stühle auf den Tischen stehen“, erzählt er. In diesem aufgeräumten und ans Trostlose grenzenden Zustand erträgt er seine Stadt dann wieder.

    Di Giorgio steht auf einem dieser malerischen, engen und wie eine Theaterbühne wirkenden Plätze in Venedig, dem Campo San Bartolomio gleich bei der Rialto-Brücke. Zu seiner Rechten das Schaufenster der Morelli-Apotheke, in dem eine kleine Anzeigetafel an diesem Tag „54 976“ anzeigt. Immer dann, wenn sich wieder ein Venezianer abgemeldet hat oder wenn ein Einwohner stirbt, sinkt die Zahl. Vor acht Jahren platzierte der Apotheker den Einwohner-Zähler in seinem Schaufenster, damals waren es noch über 60 000 Venezianer in der Altstadt. Die Farmacia Morelli und ihr makabrer Countdown sind seither eine Anlaufstelle für die Gewissheit des eigenen Endes der Venezianer. Di Giorgio steht neben dem Zähler und sieht so aus, als wisse er, dass auch seine Tage in Venedig gezählt sind.

    Vor 60 Jahren lebten noch 150 000 Menschen in der historischen Altstadt, heute sind es weniger als 55 000. Die frühere Metropole, die immer mehr einem Freiluftmuseum gleicht, bewegt sich damit in der Größenordnung von Städten wie Schweinfurt. „Manche Urlauber können es kaum glauben, wenn sie noch einem echten Venezianer begegnen“, erzählt Alvise Aranyossy, der neben seinem Freund Giovanni steht, beide umringt von Tauben und Touristen.

    Die Zahl der Gäste hat sich in den vergangenen 25 Jahren vervierfacht. Aranyossy ist 23 Jahre alt, er studiert Umweltwissenschaften an der Universität Ca Foscari und sagt: „Es ist schon fast wie in Disneyland hier, aber wir sind immer noch da.“

    Es ist nicht neu, das Lied vom Untergang Venedigs. Aber inzwischen ist eine Generation von Venezianern herangewachsen, die sich ihrem Schicksal nicht mehr ergeben will. „Generazione 90“ nennt sich die Gruppe, die vor knapp einem Jahr aus Treffen von gleichaltrigen Freunden entstanden ist. Auch Di Giorgio und Aranyossy gehören zum harten Kern. Sie sind sich sicher, dass ihre Generation die letzte ist, die noch ein authentisches Venedig erlebt hat. Gerade einmal 9000 Jugendliche leben heute in Venedig.

    Es ist nicht so, dass sich die jungen Leute einer Illusion hingegeben hätten. Sie sind immer wieder hin- und hergerissen zwischen Kapitulation und Weltverbesserung. Aber der Alltag von Venedig verlangt nun einmal nach Veränderung, darin ist sich die Gruppe einig. „Ein paar Farbtupfer im allgemeinen Grau“, wünscht sich etwa Alvise Aranyossy und ist bereit, sich dafür einzusetzen.

    Das Grau ist die Gegenwart, in der sich bis zu 200 000 Menschen am Tag über eine der schönsten Städte der Welt ergießen, meist nur für einen Tagesausflug. An Karneval regulieren Verkehrspolizisten den Verkehr, wohlgemerkt den der Fußgänger. Die Mieten sind in astronomische Höhen geschossen, weil die Venezianer selbst lieber an Touristen vermieten, die bereit sind, für ihre Kurzaufenthalte viel Geld zu zahlen. Der größte Kampf von „Generazione 90“ ist deshalb, ihre Mitbewohner davon zu überzeugen, dass es so nicht weitergehen kann. Denn während viele Venezianer über die Touristenmassen stöhnen, kommt der Ansturm denjenigen, die ihre Geschäfte mit den Fremden machen, sehr gelegen.

    Ist ein Laden zu vermieten, kann man sicher sein, dass als Nächstes entweder ein Souvenirgeschäft, eine Boutique oder eine Pizzeria einziehen wird. Wer Arbeit sucht, und zwar nicht im Tourismus, muss sich fast zwangsläufig ans Festland begeben. Junge Venezianer, die ihre Träume verwirklichen wollen, haben hier keine Perspektive.

    Einen Farbtupfer gab es im September vergangenen Jahres, als Di Giorgio und Aranyossy mit „Generazione 90“ eine witzige Aktion organisierten, die die Gruppe italienweit bekannt machte. Mit zweirädrigen Einkaufstrolleys liefen die Aktivisten in der Gruppe zum Rialto-Markt, um auf den schwierigen Alltag der Venezianer aufmerksam zu machen. Plötzlich waren es 1200 Menschen, die demonstrierten. Diesmal blockierten nicht die Touristen die Wege der Einheimischen, sondern die Venezianer blockierten die Touristen. Sie holten sich ihr Venedig für ein paar Stunden zurück. Die Aktion hat ihnen Aufschwung gegeben, die Venezianer, ältere und jüngere, rechte und linke, fühlten sich in ihrem Aufbegehren vereint. Eine Wochen später startete eine andere Bürgerinitiative, die auch die Idee mit dem Einwohnerzähler hatte, eine ähnliche Aktion unter dem Namen „Venexodus“. Mehr als 500 Venezianer versammelten sich mit Koffern und Umzugskisten vor dem Rathaus, um ihren Exodus aus der Stadt zu simulieren. Auch „Generazione 90“ war dabei. Den Eindruck, die Bewohner seien gegen den Tourismus, weist Alvise Aranyossy zurück: „Venedig lebt vom Tourismus, aber man kann auch an ihm zugrunde gehen.“

    Es geht den jungen Venezianern darum, ein für die Stadt verträgliches Maß an Fremdenverkehr zu finden. Di Giorgio, Aranyossy und die anderen von „Generazione 90“ fordern ein strengeres Reglement für die Vermietung von Ferienwohnungen und die Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Sie wollen die Umwidmung von Gebäuden unterbinden, damit nicht noch mehr Hotels in der Stadt entstehen, deren Gäste den Rest authentischen Lebens in der Stadt unterbinden. Gegen die Überfüllung des Markusplatzes zu Hauptreisezeiten soll eine Zugangsbeschränkung helfen. „Wer an Weihnachten, im Karneval oder im August auf den Markusplatz will, der muss bezahlen“, sagt Di Giorgio. 200 000 Menschen am Tag seien einfach zu viel.

    Die Vorschläge sind nachvollziehbar, einige auch gar nicht neu. Über eine Zugangsbeschränkung zur Stadt wurde erstmals Mitte der 80er Jahre diskutiert, ohne Folgen. Auch die Drohung der Unesco, der Kulturorganisation der Vereinten Nationen, die Stadt auf die Liste der gefährdeten Kulturgüter zu setzen, blieb bislang ohne Konsequenzen. Warum also akzeptiert die Stadt ihre eigene Verwandlung in eine zwar belebte, aber in Wahrheit immer leblosere Kulisse?

    Eine der Antworten auf diese Frage bekäme man wohl im Palazzo Ca Farsetti, dem Rathaus Venedigs. Bürgermeister Luigi Brugnaro gibt zwar keine Interviews. Aber er hat seine Meinung schon mehrfach kundgetan. „Die Zukunft der Gemeinde ist nicht Venedig, sondern Mestre, da, wo die meisten Leute leben“, sagt er. Der Stadtteil, der auf dem Festland liegt, wird bald doppelt so viele Einwohner zählen wie die Lagunenstadt.

    Zwölf bis 15 Millionen Touristen pro Jahr wären eine verträgliche Zahl für Venedig, das geht aus einer Studie hervor. Derzeit sind es doppelt so viele. „Welcher Bürgermeister könnte den Venezianern vorschlagen, die Zahl der Touristen zu halbieren?“, fragt der venezianische Journalist Silvio Testa. „Das wäre der Bankrott der Stadt. Die Familien leben vom Tourismus“, sagt er. Mit anderen Worten: Die Venezianer wollen es nicht anders.

    Dazu kommen enorme wirtschaftliche Interessen, etwa der Hoteliers, der Wassertaxifahrer oder der Schifffahrtsgesellschaften, die der Stadt hohe Landungsgebühren zahlen und dazu beitragen, dass es Di Giorgio und Aranyossy manchmal so vorkommt, als fielen die Touristen wie Heuschrecken über die Stadt her, um ebenso rasch wieder zu verschwinden.

    „Generazione 90“ will unparteiisch bleiben, sich mit niemandem anlegen. Auf Dauer wird das kaum möglich sein. Denn die Interessen, dass alles beim Alten bleibt in Venedig, sind groß. Venedig ist schließlich auch ein großes Business, das wissen die jungen Aktivisten. Und sie wissen, dass viele Venezianer das Geschäft mit ihrer Stadt, das so gut läuft, nur ungern gegen ein nachhaltiges Wirtschaften eintauschen würden. Wobei von vielen Venezianern eigentlich gar nicht mehr die Rede sein kann.

    Was Venedig so bedeutend macht Die Stadt: Venedig ist die Hauptstadt der Region Venetien. Man nennt sie auch La Serenissima, also „Die Allerdurchlauchtigste“. Sie ist zwar vergleichsweise klein, besitzt aber Weltrang. Die Altstadt besteht aus 118 Inseln, zwischen denen sich Kanäle hindurchziehen. Markenzeichen sind die berühmten Gondeln, hunderte Brücken, die die kleinen Wasserstraßen überqueren, und der Markusplatz. Die Stadt gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Die Kultur: Bekannt ist die Stadt auch durch ihr Filmfest, das neben den Festivals in Cannes und Berlin zu den bedeutendsten Wettbewerben der europäischen Branche zählt. Es ist gleichzeitig das älteste Filmfest der Welt. Hauptpreis ist der Goldene Löwe. Weltberühmt ist zudem der Karneval von Venedig mit seinen prunkvollen Masken, der jedes Jahr gefeiert wird. Die Geschichte: Vom 10. Jahrhundert an entwickelte sich Venedig zu einer bedeutenden Handels- und Seemacht, begünstigt durch ihre Lage am Mittelmeer. Der Einfluss bröckelte ab dem 16. Jahrhundert. Später wurde die Stadt zum Spielball fremder Mächte, gehörte mal zu Italien, mal zu Österreich. 1866 schloss sie sich dem geeinigten Italien an. AZ/dpa

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